Erstveröffentlichung in der Graswurzelrevolution (GWR 496 februar 2025).

Politisch aktiv, ohne kaputtzugehen

Wege und Möglichkeiten zum nachhaltigen anarchistischen Aktivismus. Interview mit einer anarchistischen Gruppe.

In einer Zeit des Rechtsrucks und der Verrohung der Gesellschaft wünschen sich viele Anarchist*innen mehr und langfristig existierende anarchistische Gruppen, die dezentral und vernetzt für Sichtbarkeit herrschaftsarmer Gesellschaftsentwürfe sorgen. Doch wie kann es gelingen, nachhaltig aktive Gruppen zu gründen und zu erhalten und wie kann jede*r von uns weiter politisch aktiv bleiben, ohne kaputtzugehen?

2011 hat eine Gruppe im Kontext der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA) die Veranstaltungsreihe „Politisch aktiv, ohne kaputtzugehen“ organisiert und dokumentiert (1). Auch wenn einige der darin erwähnten Projekte nicht mehr existieren, als Inspiration für nachhaltiges emanzipatorisches Aktivsein ist der Text immer noch lesenswert. Mit diesem Interview einer anarchistischen Gruppe wollen wir an Wege und Möglichkeiten zum nachhaltigen anarchistischen Aktivismus erinnern und neue Ideen teilen.

Keine Gruppe ist perfekt und wenn wir den Anspruch hätten, eine perfekte Gruppe zu bilden, würden wir an diesem hohen Anspruch kaputtgehen. Auch gibt es Lösungen, die für einige Gruppen oder Person passen, und für andere nicht. Die Antworten der interviewten Gruppe sind keine Anleitung für alle, sondern ein Laden, von dem alle nehmen können, was und so viel sie wollen. Die Gruppenmitglieder haben meist einzeln und schriftlich auf die Fragen geantwortet, was dann zusammengesetzt wurde.

Könnt ihr euch kurz vorstellen? Seit wann gibt es euch? Womit beschäftigt ihr euch?

Unsere Gruppe existiert seit Anfang 2013, hat sich seitdem aber personell stark gewandelt; derzeit gibt es kein Mitglied, das schon von Anfang an dabei war. Wir beschäftigen uns mit Anarchismus, Queerfeminismus und lokalen politischen Themen, Nachbar*innenschaftsarbeit wie Sozialrechtsberatung und Gegenseitiger Hilfe auch in Form von selbstorganisierter Lebensmittelrettung. Wir haben auch viel zu Umwelt- und Tierbefreiungsthemen gemacht.

Wie seid ihr organisiert? Wie fällt ihr Entscheidungen?

Unsere Plena finden wöchentlich statt, aber nicht alle nehmen wöchentlich teil. Das ist völlig in Ordnung. Sie sind klar strukturiert und vorbereitet. Moderation und Protokoll rotieren. Das Plenum dauert drei Stunden, wovon 1/3 freie Zeit und Pause ist. Diese Pausen sind wichtig, um sich innerhalb der anderen Zeit konzentrieren zu können.

Die übrige Zeit ist in drei Phasen geteilt: 1. Updates und Termine. 2. Top-Phase, in der Themen besprochen werden, die für alle relevant sind, und Entscheidungen gefällt werden. 3. AG-Phase mit Kleingruppen zu konkreten Projekten. Hier werden Themen besprochen, die nicht für alle relevant sind, oder bereits mit der Umsetzung begonnen. Zwischen den drei Phasen gibt es Pausen zum Auflockern.

Neben dem Plenum nutzen wir zur Kommunikation ein Wiki-ähnliches Tool und ein sicheres Chat-Programm. Im Chat werden kontroverse Themen erneut geteilt, um allen die Möglichkeit zur Entscheidung zu geben.

Gibt es Menschen in eurer Gruppe, die mehr kommunizieren oder mehr organisieren als andere und wenn ja, wird dies als Dominanz empfunden?

Wenn Personen mehr organisieren, liegt das an unterschiedlichen Prioritäten, Kapazitäten, Interessen und Wissensunterschieden. Das wird jedoch nicht als Dominanz empfunden, da darauf geachtet wird, dass alle gehört werden und die Chance bekommen, etwas zu sagen, wenn sie wollen. Dominanz entsteht in meinen Augen vor allem dann, wenn die Menschen, die viel in der Gruppe machen, auch immer die Menschen sind, die alles entscheiden. Das nehme ich in der Gruppe nicht so stark wahr. Gerade bei kritischen oder kontroversen Themen werden immer möglichst viele in die Entscheidung mit einbezogen. Als eine Person, die neu dazugestoßen ist, empfinde ich die Ungleichheit eher als entlastend: Habe ich Ideen oder Vorschläge, werden diese offen aufgenommen, aber ich muss nicht mehr an Energie investieren, als ich habe. Dadurch, dass dies explizit nicht erwartet wird, habe ich mehr Zeit, die gewachsenen Strukturen kennenzulernen.

Habt ihr eine Gruppenidentität? Seid ihr z. B. eher familiär, eher geschlossen oder eher offen? Eher homogen zusammengesetzt oder divers, was z. B. Betroffenheit von Diskriminierung angeht?

Die Umgangsform in der Gruppe ist eher umgänglich-freundschaftlich als fachlich-akademisch-formell. Wir machen auch außerhalb der Plena Sachen gemeinsam. Wir sind eine offene Gruppe, die aber keine offenen Plena hat. Es gibt einen recht klar definierten Prozess der Aufnahme und Einarbeitung. In unserer Gruppe sind viele trans* Personen, auch chronisch-kranke und behinderte Personen. Die meisten erfahren keinen Rassismus.

Von der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen gibt es einen Text mit Hinweisen zur Gründung anarchistischer Gruppen (2), in dem u. a. angeregt wird, früh im Prozess der Gründung grundlegende inhaltliche Fragen und organisatorische Strukturen zu klären. Seid ihr auch so vorgegangen?

Keins von uns war bei der Gruppengründung mit dabei. Der Gründungsprozess wird in meinen Augen in der Regel überbewertet. Es kommt eher darauf an, die Gruppe am Leben zu erhalten und weiterzuentwickeln.

Viele Gruppen lösen sich auf, weil Leute wegziehen, keine Zeit mehr haben oder andere Interessen. Schafft ihr es gut, neue Leute zu integrieren, um dem vorzubeugen?

Die Praxis, einen Verlust von Mitgliedern durch viele neue auszugleichen, spricht eher für eine vergiftete Kultur innerhalb der Gruppe, in der Menschen als Machtbasis und Ressourcen angesehen werden, die beliebig auswechselbar sind. Diese Burn-out-Kultur, verbunden mit dem aggressiven Anwerben neuer Menschen, ist oft in kommunistischen Gruppen zu finden. Wir freuen uns, wenn neue Menschen dazu kommen. Wichtig ist aber auch immer zu schauen, dass es persönlich für alle Beteiligten passt, auch für die Menschen, die neu in die Gruppe kommen.

Sich in einen Raum zu begeben und sich einzubringen, erfordert Mut. Außerdem gibt es in der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Situation viele Barrieren, sich politisch zu organisieren. Das Vertrauen fehlt. Wir versuchen, die Barrieren der Gruppe abzubauen und verständnisvoll für unterschiedliche Bedürfnisse zu sein.

Da wir unterschiedliche Angebote organisieren, gibt es viele Möglichkeiten, uns kennenzulernen. Der Raum, den wir nutzen, wird auch von anderen Gruppen genutzt, sodass mensch uns eher beiläufig entdecken kann. Es gibt hin und wieder offene Kennenlerntreffen, die wir bewerben. Auf einem zweiten internen Kennenlerntreffen wird dann u. a. die Gruppe, ihre Struktur und Funktionsweise vorgestellt. In einem geselligen Teil des Treffens versuchen wir uns auch menschlich kennenzulernen. Wenn Menschen zu den Kennenlerntreffen kommen, bleiben sie meistens. Das holt Menschen mehr ab, als der Direkteinstieg im Plenum, der schnell überfordernd wirken kann.

Neuen Mitgliedern wird am Anfang ein Buddy angeboten, der primär die Verantwortung dafür übernehmen soll, dass das neue Mitglied in alle wichtigen Strukturen, Abläufe, etc., der Gruppe eingewiesen wird, und in der Gruppe ankommen kann. Das wichtigste, und das ist auch Teil des Buddy-Systems, ist, Menschen auch aktiv dazu zu befähigen, eigene Projekte innerhalb der Gruppe umzusetzen. Diese Befähigung wird oft vernachlässigt, bildet aber die Grundlage dafür, dass Menschen auf Dauer und für sie sinnhaft an Gruppen teilnehmen. Das verhindert auch, dass sich „Außer mir macht ja keiner was“-Mackerstrukturen herausbilden.

Seht ihr es auch so, dass ein hierarchiearmer Umgang miteinander eine Atmosphäre braucht, in der Menschen ihre Anliegen und Gefühle äußern können? Konntet ihr es normalisieren, über Gefühle und insbesondere Ängste zu reden?

Emotionen sind eine Voraussetzung für politisches Handeln: Wenn ich nicht wütend wäre, würde ich nicht hier sitzen und sagen, wir müssen das anders machen. Auch in unseren Diskussionen geht es immer wieder um unsere Gefühle und Bedürfnisse.

Es gibt hier den Space und die Atmosphäre, um offen reden zu können, ohne gewertet zu werden. Dabei geht es bei uns nicht so sehr darum, sich durchzusetzen oder recht zu haben, als viel mehr darum, die unterschiedlichen Perspektiven und Ansichten in einer Lösung unter einen Hut zu bringen. Es ist uns wichtig, aufeinander zu achten, einander ernst zu nehmen und zu verstehen. Dazu hören wir einander zu und lassen ausreden. Wir haben meist einen respektvollen und konstruktiven Umgang miteinander. Doch gerade Stress ist Gift für gute und bedürfnisorientierte Kommunikation.

Wir starten jedes Plenum mit einer Befindlichkeitsrunde. Es gelingt uns nicht immer, auf die dann im Raum stehenden Gefühle einzugehen. Im Plenum (Gruppengespräch mit allen Leuten) ist es oft schwer, offen und ehrlich über alle Gefühle zu reden. Dafür sind manchmal Einzelgespräche besser geeignet. Es gibt auch außerhalb der Plena Gelegenheit, sich über Gefühle wie Wut und Trauer auseinanderzusetzen. Eine feste Struktur dazu sind die Awarenesstreffen.

Wie geht ihr mit Konflikten um? Geht ihr sie aktiv und mutig an oder lasst ihr sie wegen anderer Prioritäten eher ruhen? Klärt ihr Konflikte eher intern oder fragt ihr auch mal extern nach Unterstützung? Schließlich ist gegenseitige Unterstützung ein linkes Motiv. :)

Wir müssen nicht immer alle einer Meinung sein und schaffen es ganz gut, Ambivalenzen auszuhalten. Wir haben beispielsweise schon Demos organisiert und sie gleichzeitig öffentlich kritisiert. Mein Eindruck ist, dass viele in unserer Gruppe gerade eher harmonie- und lösungsorientiert sind. Die Gefahr ist dabei immer, dass Konflikte nicht offen angesprochen werden. Das ist sicherlich auch teilweise der Fall, was eine Zusammenarbeit in der Gruppe aber gerade nicht so wirklich belastet oder verhindert.

Wir akzeptieren Konflikte, wenn sie nötig erscheinen, wie z. B. in der Auseinandersetzung mit anderen Gruppen oder Themen, die für uns relevant sind. Bei Themen, wie beispielsweise dem israelisch-palästinensischen Konflikt, die nichts mit unserer politischen Arbeit vor Ort zu tun haben, sind wir eher pragmatisch und sprechen das Thema gar nicht an oder nur in einem extra dafür vorgesehenen Rahmen. Wenn Konflikte belastend sind, nutzen wir unsere Awarenessstrukturen. Falls mindestens eine Person einen Wunsch danach äußert, fragen wir nach externer Unterstützung oder Moderation. Das kam bisher einmal vor. Mindestens eine Person in der Gruppe hat auch eine Konfliktmoderationsausbildung.

Kritikwürdiges Verhalten und belastende Konflikte werden auch in anlassbezogenen Reflexionstreffen angesprochen. Zusätzlich gibt es dazu bei Bedarf Gespräche in kleinen Gruppen oder zu zweit. Doch trotz der Nachbereitung von Konflikten kommt es immer wieder vor, dass Menschen im Zusammenhang mit Konflikten die Gruppe verlassen. Trennung ist auch eine Option, wenn sonst gar nichts mehr geht.

Habt ihr Praktiken der Konfliktprävention?

Bei uns ist alles freiwillig. Das nimmt viel Druck und Potenzial für Konflikte raus. Unsere Kultur der Offenheit ermöglicht das Äußern unterschiedlicher Meinungen und deren Wertschätzung. Das ist uns wichtig, damit Konflikte möglichst nicht verdeckt brodeln. Eine weitere Methode der Konfliktprävention ist das oben erwähnte Ausklammern von potenziellen Konfliktthemen, wenn sie unsere Arbeit nicht direkt betreffen.

Wir haben ein Awarenesskonzept, was auch eine konfliktpräventive Aufgabe übernimmt. Es gibt eine offene Awarenessgruppe, aus der sich mit der Zeit Dreiergruppen auskoppeln, die sich dann unabhängig alle vier bis sechs Wochen treffen. Ziel dieser Gruppen ist regelmäßige Reflexion, also darüber zu reden, wie es uns geht, was uns beschäftigt, auch in Bezug auf die Gruppe. Zusätzlich beschäftigen wir uns in diesen Treffen mit verinnerlichten herrschaftlichen Verhaltensweisen und Wegen, diese abzubauen, beispielsweise durch inhaltliche Weiterbildung zu antipatriachalen und antirassistischen Themen.

Wie kümmert ihr euch um die Reflexion eurer Umgangsweisen und Prozesse als Gruppe?

Die Awarenesstreffen sind ein Raum dafür. Zusätzlich organisieren wir jährliche Reflexionstreffen, in denen wir besprechen, wie es insgesamt läuft. Dabei geht es darum, Menschen abzuholen, zu schauen, was gut läuft, was besser laufen kann und wie wir uns weiter entwickeln wollen.

Ist Care-Arbeit bei euch gleichmäßig verteilt? Also z. B. welche Menschen, das Wohlbefinden aller in der Gruppe, Spannungen und Konflikte auf dem Schirm haben.

Ich glaube nicht.

Wisst ihr, was Einzelne von euch und euch als Gruppe stresst? Wie geht ihr mit Stress und Druck von innen oder außen um?

Manchmal werden z. B. Planungsphasen stressig. Wichtig ist, dass, wenn Menschen nach Unterstützung fragen, die auch da ist. Wir arbeiten meist effizient, aber nicht so, dass wir gestresst sind. Stress ist ja eher ein Gefühl von Überforderung. Anforderungen sind immer verhandelbar, das ist uns auch als Gruppe bewusst. Wenn wir Stress entstehen sehen, sagen wir immer: „Machen wir entspannt, dann haben wir keinen Stress.“ Dann schauen wir, woher die hohen Anforderungen kommen, die uns stressen. Manchmal kommen die auch von uns selbst, dass uns dann bestimmte Sachen wichtiger sind, als das, was wir leisten können. Dann sind wir so ehrlich zu sagen, das schaffen wir nicht. Wir gucken, wie wir die Anforderungen runterschrauben können. Von außen lassen wir uns nicht stressen. Wir haben kein Problem damit, uncool zu sein.

Ich habe gehört, dass ihr Druck vermeidet, indem ihr ressourcenorientiert handelt. Was bedeutet das für euch?

Für mich geht es darum, erst zu schauen, was können wir (schaffen), und dann erst zu schauen, was wir machen. Viele Gruppen scheinen es anders zu machen. Also am Anfang steht z. B. die Idee einer fertigen Kampagne zu einem bestimmten gerade angesagten Thema. Dann delegiert derdie Chefin der Gruppe die Aufgaben und treibt die Menschen an, die entsprechenden Aufgaben zu erledigen. Manchmal ist derdie Chefin auch charismatisch und mehr oder weniger freundlich, dann kann es auch schön sein zusammen zuarbeiten. Die Dynamik bleibt aber dieselbe. Vielmehr geht es darum zu gucken, was für Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse in der Gruppe sind und was für ein Projekt wir damit gemeinsam umsetzen können. Gemeinsam, nicht gegeneinander.

Wie geht ihr damit um, wenn Gruppenmitglieder über längere Zeit weniger Zeit oder Energie haben und weniger beitragen können oder eine Auszeit nehmen wollen?

Wir akzeptieren das. Wir fragen nach, ob wir in der Gruppe etwas verändern können, um es zugänglicher zu gestalten. Jedes Mitglied kann zu jeder Zeit soviel oder wenig „beitragen“ wie es möchte. Z. B. sich nur mal zu bestimmten Veranstaltungen einklinken, nur mal wieder für ein paar Wochen mitmachen oder nur per Chat dabei sein. Es gibt keine Mindestanforderungen für eine Teilnahme in der Gruppe. Vorstellbar wäre auch, dass du uns sagst, was du zu machen Lust hättest, und wir auf dich zukommen, wenn wir etwas in die Richtung machen oder deine Fähigkeiten uns irgendwie unterstützen können. Diese Form der Freiwilligkeit ist es, die gute zuverlässige Absprachen ermöglicht. Menschen sagen viel genauer, was für sie okay ist und was nicht, wenn sie sicher sind, dass sie ihre Bedenken, Ansichten und Kapazitäten frei äußern können, ohne dafür verurteilt zu werden.

Es ist die grundlegende Frage von Freiwilligkeit. Klar können Menschen jederzeit entscheiden, teilzunehmen oder nicht. Genau darum geht es in der anarchistischen Idee der freien Assoziation. Mach was du willst, mit wem du willst. Konsens sollte jederzeit auch wieder zurückziehbar sein. Alle, die sich damit schwertun, sollten da mal drüber nachdenken, warum sie unsere Freiheit so hassen, und ob sie nicht in einer disziplinierten kommunistischen Zwangsorganisation besser aufgehoben wären.

Was braucht ihr, um motiviert zu bleiben? Ist euch dazu beispielsweise internes und externes Feedback wichtig?

Ja, Feedback ist wichtig. Mir persönlich hilft das Lesen von politischer Theorie für den Erhalt der Sinnhaftigkeit. Manchmal ist es auch gut, einfach loszulegen, ohne alles zu hinterfragen.

Wie vereinbart ihr Gruppeninteressen mit individuellen Interessen?

Ich weiß nicht so richtig, was ein Gruppeninteresse sein soll. Die Gruppeninteressen werden ja definiert durch die Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmenden und ändern sich auch mit den Interessen der Teilnehmenden. Die Gruppe ist nur ein Werkzeug, nichts Eigenständiges, was irgendwie ein Eigenleben hat. Gruppeninteresse über individuelles Interesse zu stellen ist Ausbeutung.

Wie schafft ihr die Balance zwischen Lust einerseits und die für solidarische Praxis wichtige Verantwortung und Verbindlichkeit andererseits?

Verbindlichkeit haben wir durch Freiwilligkeit ersetzt. Deshalb machen wir fast nur das, worauf wir Lust haben. Und wenn wir mal was machen müssen, worauf wir keine Lust haben, dann schauen wir, warum wir keine Lust drauf haben. Müssen wir es wirklich machen und gibt es vielleicht Wege, wie wir es machen können, dass wir es vielleicht doch gerne machen? Putzen ist halt manchmal auch scheiße – aber es gehört dazu.

Habt ihr eine Kultur, Erfolge zu feiern und in Erinnerung zu rufen und Anerkennung für erledigte Tätigkeiten zu geben? Wie macht ihr das, ohne dass sich ein „danke“ komisch von oben herab anfühlt?

Wir erzählen am Anfang des Plenums, was wir in der letzten Woche bezüglich unserer Gruppenprojekte gemacht haben, um uns upzudaten. Dabei reflektieren wir auch, was wie gelaufen ist. Darüber hinaus könnte es gerne etwas mehr Anerkennung in der Gruppe geben.

Wie schafft ihr es, trotz der gesellschaftlichen Gesamtsituation einen positiven Bezug zu euren Inhalten zu bewahren, sodass ihr diese ohne Zynismus kommunizieren und sympathisch für andere weitergeben könnt?

Gemeinsame Ziele zu verfolgen, die Erfahrung von Solidarität, Gemeinschaft und Anerkennung in unserer Gruppe sind etwas Positives. Ich merke, wenn ich lebe was ich denke, macht das nicht nur mein Leben besser (z. B. keine Lohnarbeit mehr), sondern auch das Leben der Menschen um mich herum.

Mich treibt eine Art Nihilismus an: Es ist egal, ob es etwas bringt oder nicht, wichtig ist nur, nicht nichts zu tun. Und das was getan wird, muss nicht allein das große Ganze verändern. Es reicht, wenn es kleine Sachen zum Besseren verändert oder verhindert, dass es schlimmer wird.

Für mich ist es auch politische Theorie, die hilft gesamtgesellschaftliche und auch historische Zusammenhänge zu sehen. Wir machen heute, was Menschen seit Jahrtausenden machen. Wir kämpfen gegen jede Form von Herrschaft. Dafür gibt es gute emotionale, rationale und persönliche Gründe. Wir wollen Freiheit für uns alle. Dafür kämpfen wir. Mehr nicht.

Das sind viele inspirierende Worte und Ideen. Danke für eure Zeit.

Das mit der kompletten Freiwilligkeit und jederzeit zurückziehbarem Konsens finde ich eine spannende Frage. Für manche Gruppen kann das gut funktionieren, bei uns im Hausprojekt ist das anders, weil mensch nicht mal eben schnell ausziehen kann und direkter mit den Auswirkungen nicht eingehaltener Vereinbarungen zusammenlebt. Nicht erledigte Tätigkeiten können zur Nichterfüllung von Bedürfnissen von Mitbewohnenden führen, Auswirkungen auf die Instandhaltung der Häuser oder finanzielle und existenzielle Konsequenzen haben. Auch die Frage der Verteilung der Care-Arbeit ist drängender. Ein zurückgezogener Konsens könnte im Hausprojekt im Extremfall bedeuten, dass eine Person das Dach über dem Kopf verliert.

(1) Reader "Politisch aktiv, ohne kaputtzugehen"

(2) FdA-Text "Wie eine anarchistische Gruppe gründen"

2025/02