Buddy-Systeme

– Eine Basis für effektives bedürfnisorientiertes Leben?

Die Welt, in der wir leben, ist an vielen Stellen durch Isolation und Vereinzelung geprägt. Immer kleinere Einheiten, die so mehr eigene Ressourcen brauchen, also weniger teilen können und so mehr konsumieren müssen und die sich in Konkurrenz und Neid voller Misstrauen beäugen. Mit ihren Schwierigkeiten und Ängsten alleine, sehen sie diese als ihre Privatprobleme, statt sich mit anderen auszutauschen und Probleme als das, was sie sind, zu erkennen – nämlich als Fehler des Systems.

Eine Möglichkeit, trotzdem nicht durchzudrehen, selbst neue Handlungsspielräume zu eröffnen und dem Ist-Zustand gleichzeitig etwas entgegenzusetzen sind Buddy-Systeme. Der Begriff Buddy kommt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie Kumpel_ine, Freund_in. Wenn zwei oder drei gleichberechtigte Menschen (die Buddies) eine Einheit bilden, um aufeinander zu achten und sich gegenseitig zu unterstützen, ist das ein Buddy-System. Dieser Begriff mag für die Bezeichnung einer Beziehung zwischen zwei Menschen sehr technisch klingen, macht meiner Meinung nach aber die in dem Konzept enthaltenen Ideen von Verbindlichkeit und koordiniertem Vorgehen beispielsweise in Bezug auf Zielsetzungen deutlich.

Im Vergleich zu einer „normalen“ Freundschaft muss bei einem Buddy-System nicht unbedingt umfassende Sympathie oder eine gemeinsame Vergangenheit vorhanden sein. Es genügt Vertrauen und das gemeinsame Interesse an einem Projekt. Das Weiterbringen dieses Projekts hat in einem Buddy-System meist eine höhere Gewichtung als das nicht notwendig auf ein Ziel ausgerichtete „gemütliche Zusammensein“ einer Freundschaft. Dieser Text beschreibt, was es bedeuten kann, ein Buddy-System zu bilden und die vielfältigen Vorzüge gegenüber Vereinzelung. Es wird überlegt, wie ein System, das auf unterster Ebene von Buddy-Systemen durchsetzt ist, organisiert sein könnte, wie es die individuelle Stärkung von Fähigkeiten fördern und Isolation in gemeinschaftliche Selbstbestimmung überführen könnte.

Buddy-Systeme in der Praxis

In sehr verschiedenartigen Kontexten haben sich bereits Buddy-Systeme als „Best Practices“ (optimale Vorgehensweisen) etabliert. Diese unterscheiden sich nicht nur in den Begriffen, sondern auch in Zielsetzung und Charakter der Gruppe. Studierende bilden Buddy-Systeme oder Tandems, um sich gegenseitig beim Lernen zu unterstützen, Fähigkeiten auszutauschen oder den Buddy in eine für sie_ihn fremde Struktur einzuführen. Tauchende bilden Buddy-Systeme, um gegenseitig die Technik zu kontrollieren und sich bei Gefahr zu helfen. Beim Programmieren sitzen zwei Menschen beim so genannten Pair-Programming zusammen vor einem Bildschirm. Eine tippt und eine versucht, den Überblick zu behalten, wobei häufig die Tastatur hin und her geschoben wird. Bei Demos bilden einige zusätzlich zu Bezugsgruppen Buddy-Systeme, die sich in brenzligen Situationen gegenseitig Sicherheit geben, aufeinander achten und beieinander bleiben. Schriftsteller_innen suchen sich einen Buddy, um sich regelmäßig über den Fortschritt ihrer Arbeit auszutauschen und sich so gegenseitig Feedback zu geben und zu bestärken. Beim Co-Counseln oder Peer-Counseling gehen zwei Menschen eine längerfristige Verbindung ein, in der sie in psychologischer Selbsthilfe gegenseitig Unterstützung geben und ihre Entwicklung begleiten.

Bei einigen dieser Buddy-Systeme steht das Bedürfnis nach Sicherheit und persönlicher Entwicklung im Vordergrund. Diese Buddy-Paare bleiben langfristig bestehen und tauschen sich überwiegend auf emotionaler Ebene aus. Bei anderen Buddy-Systemen steht das kreative Zusammenbringen von unterschiedlichen Gedanken und Perspektiven und so die Verteilung und Verbreitung von Wissen im Vordergrund. Dabei sind häufige Buddy-Wechsel vorzuziehen. Buddy-Systeme können sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen befinden, unterschiedliche Komponenten kombinieren und eine Person kann für unterschiedliche Projekte oder Organisationszusammenhänge gleichzeitig in mehreren Buddy-Systemen sein. Ein Buddy-System zu bilden heißt nicht, sich umarmen zu müssen. Buddies können und sollten zu Beginn ihres Zusammenwirkens gemeinsame Ziele und die Art der gewünschten gegenseitigen Unterstützung und Umgangsformen beispielsweise in Stresssituationen klären. Neben dem gegenseitigen Erinnern an selbst gesetzte Ziele, dem gemeinsamen Feiern von Erfolgen oder Trauern bei Misserfolgen können Fragetechniken, Techniken des Spiegelns, Aktiven Zuhörens, Feedbacks und nicht bewertenden Beobachtens eingesetzt werden. Beim Pair-Programming wird auf die Frage „kannst du mir helfen?“ standardmäßig (wenn nicht ein eigenes dringenderes Bedürfnis dagegen spricht) mit „ja“ geantwortet. Durch diese Konvention können alle sicher sein, von der Gruppe nicht mit Problemen alleine gelassen zu werden. Buddies in Gefahren- oder Stresssituationen fragen sich regelmäßig „bist du ok?“. Um in Verbindung zu bleiben oder wieder in Verbindung zu kommen sind Fragen wie „was denkst du gerade?“ oder „... habe ich dich so richtig verstanden?“ geeignet. Diese Beispiele müssen natürlich nicht schematisch angewandt werden. Sie sollen lediglich eine Idee der mit dem Buddy-System verbundenen Einstellung vermitteln und können in einem gemeinsamen Prozess an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden.

Das Menschenbild und die Wirkung des Buddy-Systems

Gemeinsam ist den Buddy-Systemen ein grundlegend positives Menschenbild sowie die Annahme, dass Menschen lernen und sich weiterentwickeln wollen, dass sie an kooperativen Kontakten zu anderen Menschen interessiert sind. Demnach ist es uns allen ein Bedürfnis, uns mit anderen auszutauschen, zu deren Wohl beizutragen und von ihnen Unterstützung zu bekommen. Dabei geht es keineswegs nur um ein Bedürfnis nach intellektuellem Austausch, sondern teilweise sogar schwerpunktmäßig um ein einfühlendes Miteinander, Respekt, ernst- und wahrgenommen werden. Buddy-Systeme gehen davon aus, dass der intensive gleichberechtigte Austausch zwischen zwei Menschen Selbsthilfe nicht nur ermöglicht, sondern das Lernen sogar wirkungsvoller, nachhaltiger und menschlicher als in Lehrer_innen/Schüler_innen-Beziehungen gestaltet. Für das Pair-Programming gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Pairs zusammen mehr erreichen, als die Summe der Tätigkeiten zweier getrennter Programmierer_innen in der gleichen Zeit.

Buddy-Systeme bieten sowohl auf organisatorischer als auch auf psychologischer Ebene viele Vorteile. Indem mehrere Personen wie beim Mentoring – jedoch auf gleichberechtigter Kumpel_inen-Ebene – direkt miteinander tätig sind, kann sich Wissen schnell und intensiv verbreiten. Im Sinne des „Learning by doing“ wandern praxisrelevante Fähigkeiten sowie nützliche Tipps und Tricks von Buddy zu Buddy. Bei Buddy-Systemen in denen diese Komponente wichtig ist, sollten Buddies häufig die_den Partner_in wechseln, um Fähigkeiten und Wissen weiter zu verbreiten, sowie im Austausch kreative neue Ideen entstehen zu lassen. Sind mehrere Buddy-Systeme gleichzeitig im Raum, können auch durch das zufällige Mithören von Unterhaltungen zusätzliche kreative Effekte entstehen.

Dieses System des Wissenstransfers hilft bei der Vermeidung von Informationshierarchien, Kompetenz- und Verantwortungshäufungen auf einzelnen Personen. Das ist aus vielen Gründen wünschenswert: Die Verantwortung für das Gesamtprojekt wird von allen gleichmäßig getragen, die Identifikation mit dem Projekt ist entsprechend der Mitgestaltungsmöglichkeiten recht hoch, mit Verantwortung verbundene Ängste und Stress verteilen sich ebenfalls über mehrere Leute. Dies vermindert das Burn-out-Risiko, vermindert die Gefahr, dass das Projekt ins Stocken gerät, wenn „wichtige“ Leute nicht da sind, und gibt so allen die Freiheit, guten Gewissens gehen zu können, wenn sie das wollen.

Innerhalb von bestehenden Gruppen bietet das Buddy-System die Möglichkeit, neue Leute schnell mit den Strukturen vertraut zu machen und an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst zu integrieren. Isolation von einzelnen Menschen innerhalb einer Gruppe kann überwunden werden, wenn am Rand stehende Menschen über Buddies eingebunden und so vielleicht aus einer anderen Perspektive als der, die die Distanz verursacht hat, kennen gelernt werden. Das schnelle und intensive menschliche Kennenlernen ist eine weitere Stärke des Buddy-Systems. Das beim Kennenlernen gewonnene Vertrauen und der direkte Kontakt, eventuell in Verbindung mit Vereinbarungen über die gewünschte Art der Unterstützung in Belastungssituationen, kann den Buddies ein Gefühl von Sicherheit geben. Eine Vereinbarung könnte sein, in gefährlichen Situationen nicht von der Seite des Buddies zu weichen. Im Fall einer Störung (ein Buddy ist von dem aktuell Erlebten stark getroffen, beispielsweise bei einer Grenzverletzung) kann der_die andere Buddy helfen, konkret herauszufinden und zu formulieren, wie es der betroffenen Person geht und worin die Störung besteht. Ist der Buddy, der die Grenzverletzung erlebt hat, aktuell nicht in der Lage, ihre_seine Bedürfnisse zu artikulieren, kann der_die andere Buddy dabei unterstützen.

Wenn dies gewünscht ist, kann ein Buddy Feedback zum eigenen Handeln geben und so Möglichkeiten zur Weiterentwicklung eröffnen oder den Bedürfnissen nach Wertschätzung und Gesehen werden nachkommen. Für Menschen, die wenig Zeit mit anderen Menschen verbringen, ist dies zudem wichtig, um mehr Sicherheit über das eigene Auftreten zu gewinnen, starke Selbstzweifel zu überwinden und abschätzen zu können, wie wirr oder realitätsfremd die eigenen Gedanken und Ideen wirklich sind. Einige Menschen kennen auch den Effekt, dass Erlebtes oder besonders Gelesenes erst dann als real, tiefer verständlich oder länger abrufbar im Kopf bleibt, wenn mit einem Buddy darüber geredet wurde. Einsamkeit, Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit können sich durch Buddy-Systeme in objektive Beobachtungen und konkrete Veränderungsstrategien verwandeln.

Im intensiven direkten, unter Umständen mit Stresssituationen verbundenen Kontakt zu einem Buddy, kann es vorkommen, dass das eigene Verhalten nicht den eigenen hohen Ansprüchen von gegenseitigem Respekt genügt. Buddy-Systeme sind auch Labore und Übungsfelder für den einfühlsamen mitmenschlichen Umgang. Es kann geübt werden, ehrlich zu kommunizieren, Vertrauen zu schenken, auch Gefühle nicht auszuklammern, objektiv und bewertungsfrei zu beobachten, Bedürfnisse selbstbewusst zu benennen, die Gefühle und Bedürfnisse des Buddies wahrzunehmen, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und all dies respektvoll zu kommunizieren. Durch die Aneignung dieser Fähigkeiten und die Sensibilisierung für respektvollen Umgang in Buddy-Systemen kann mensch dies in größeren Gruppen einbringen, wo die Umsetzung wegen der Anzahl der Eindrücke und der höheren Geschwindigkeit der Interaktion häufig schwieriger ist.

Signale für die Notwendigkeit der (Eigen-)Reflexion des Verhaltens in Buddy-Systemen können beispielsweise folgende Gedanken sein: „mein_e Partner_in kann mir nicht helfen, er_sie hat zu wenig Ahnung“, „dessen Vorgehen/der nervt mich total“, „der kann ich ja doch nicht helfen“, „die ist viel zu eigensinnig“ oder der Wunsch, „besser“ als der Buddy zu „sein“. Diese Gedanken sind eine gute Gelegenheit, sich selbst zu fragen, welches Menschenbild dahinter steckt und wie die be- oder verurteilenden Gedanken in objektive Beobachtungen und konkrete Bitten an die Person umformuliert werden können. Weitere Lernfelder können sein, andere Perspektiven zu verstehen und die eigene hinterfragen zu können oder Wissen weiterzugeben, ohne dabei überlegen zu wirken.

In der Praxis stehen diese psychologischen Effekte nicht so sehr im Mittelpunkt – es sei denn, dies ist explizit erwünscht. Lerneffekte ergeben sich mehr unbemerkt und nebenbei. Spannend finde ich das Konzept Buddy-System, weil es gleichzeitig produktives gemeinsames Tätigsein, individuelle Weiterentwicklung und Wohlfühlen fördert. Dies wird meiner Meinung nach durch den Kern des Konzepts, die gleichberechtigte, herrschaftsfreie und explizit nicht ökonomische Beziehung zwischen zwei Buddies ermöglicht.

Übung im respektvollen Umgang erscheint mir aus zwei Gründen sehr wichtig: zum einen sind manche Teile der „linken Szene“ auch eine wilde Ansammlung von Selbsthilfegruppen, sodass es vielleicht sinnvoll ist, mit diesem Bedürfnis koordinierter umzugehen. Zum anderen kann ich mir nicht vorstellen, dass gesellschaftliche Veränderungen oder Systemwechsel zu etwas führen, was den Bedürfnissen aller Menschen näher ist als der Ist-Zustand, wenn sich gewisse Verhaltensmuster nicht ändern. Ich wünsche mir, dass das Prinzip Buddy-System in vielen Lebensbereichen Anwendung findet und sich zahlreiche Möglichkeiten der Buddy-Findung entwickeln. Dies könnten beispielsweise lokale Gruppen sein, die als eine Art Kontaktbörse fungieren oder auch Social-Web-Anwendungen im Internet.

Einschätzung und Perspektiven des Buddy-Systems

Ich stelle mir vor, wie das Buddy-System eine ganze Gesellschaft auf unterster Ebene durchziehen könnte. Beim Lernen, beim Sport, bei beruflichen Tätigkeiten, bei Projekten oder Aktionen, beim Umgang mit Kindern, bei gegenseitiger „Psychohygiene“ und überall sonst, wo eine Form des Buddy-Systems sinnvoll erscheint. Auch intime oder sexuelle Beziehungen können als eine spezielle Form des Buddy-Systems gesehen werden. Buddy-Systeme können die Wahrnehmung von Bedürfnissen und Interessen schärfen. Eine Folge davon kann sein, dass sich Interessensgruppen bilden, in denen die Bedürfnisse aller Beteiligten geachtet werden und alle von einer Entscheidung betroffenen mitentscheiden.

Wenn sich solche Interessensgruppen wie beispielsweise Projektgruppen (Menschen, die für einen gewissen Zeitraum gemeinsam ein Projekt auf die Beine stellen), Wohngruppen (Menschen, die zusammen in einem Haus wohnen), Nahrungsgruppen (Menschen, die sich um die Versorgung eines Quartiers mit Nahrungsmitteln kümmern) oder Transportgruppen (Menschen, die die lokale Koordination von Verkehrsmitteln organisieren) bilden, können innerhalb dieser Gruppen wieder Buddy-Systeme gebildet werden. Dies kann die Integration von neuen Leuten erleichtern und die „versehentliche“ Nichtbeachtung von Einzelnen verhindern. Die Buddy-Systeme einer Gruppe können vorher klären, was ihnen wichtig ist, und von ihren gemeinsamen Aktivitäten berichten, sodass Gruppenplena möglicherweise effizienter gestaltet werden könnten, als wenn zu jeder Frage erst ein gemeinsamer Gruppenkonsens erarbeitet werden muss. Bei grundsätzlichen Entscheidungen könnten die Bedürfnisse schnell kommuniziert und so schnell entschieden werden. Detailfragen können wieder an sich dafür interessierende Buddy-Systeme abgegeben werden.

Sind wie bei Ressourcengruppen (Menschen, die sich um die Verteilung von Wasser, Öl oder Elektrizität kümmern) nicht nur lokale, sondern auch regionale, überregionale und globale Absprachen und damit Delegiertenplena nötig, ist beispielsweise folgendes Konzept sinnvoll: Je ein Buddy-System (zwei Menschen) aus den entsendenden Gruppen nimmt teil – eine Person, die schon beim letzten Mal dabei war und eine weitere, die dann beim nächsten Treffen wieder mit einer anderen Person dabei ist. So kann Verantwortung verteilt und Wissen weiter gegeben werden. Delegierte treffen übrigens keine eigenmächtigen Entscheidungen, sondern nur solche, die im Sinne der entsendenden Gruppe sind.

So kann das Buddy-System struktureller Teil anarchistischer Gesellschaften sein: Gesellschaften in bester Ordnung, mit Achtung und Sicherheit für alle, bedürfnisorientiert und völlig frei von Herrschaftsstrukturen.

2013/07