Da theoretische und abstrakte Erklärungen über die Eigenschaften und Möglichkeiten anarchistischen Wirtschaftens oft schwammig, unklar, schwer vorstellbar und für manche langweilig bleiben, habe ich einige Ideen zu anarchistischem Wirtschaften hier in eine kurze Geschichte gesteckt. Die anarchistische Utopie ist nicht darauf angewiesen, dass alles im Überfluss verfügbar ist.
Auch 20 Jahre nach der Revolution und dem Beginn ernsthafter Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe gab es in der Region, in der Bo wohnte, zu hohe Temperaturen und zunehmendem Wassermangel. Die regionale Versammlung von Delegierten hatte Trinkwasser als knappes Gut eingestuft und empfohlen, den Verbrauch besser statistisch zu erfassen und zu reduzieren, sowie ein dafür zuständiges Trinkwasser-Koordinationskomitee mit festgelegtem Handlungsspielraum zu bilden. Die Bewohnenden der Region hatten diesen Maßnahmen nach einigen Diskussionen und Verbesserungen in großem Konsens zugestimmt. Selbstverständlich könnte das Komitee jederzeit aufgelöst werden, wenn es sich nicht an die Vereinbarungen halten würde oder die Bedingungen sich geändert hätten.
Bo war in das neue Komitee einberufen worden und hatte Lust, auf die organisatorische Herausforderung. Wasserzähler an Hausverteilerrohren waren, wo nötig, instandgesetzt und beim Arbeitskoordinationskomitee nach monatlicher Ablesung gefragt worden. Es hatte sich lange kein Mensch mehr um die Wasserzähler gekümmert – schließlich war Wasser wie alles andere grundsätzlich frei zugänglich und die Verbrauchsmessung daher zunächst irrelevant. Die Diskussion des Themas in der Öffentlichkeit, die Transparenz des Verbrauchs und auch sozialer Druck spielten bei der Verbrauchsreduzierung eine Rolle. In einigen Fällen von Mehrverbraucher*innen hatten Bo und Kolleg*innen das Konfliktkomitee hinzugezogen, um mit allen Beteiligten Vereinbarungen zur Reduzierung des Verbrauchs zu finden. Gemeinsames Ziel war es, durch unterschiedliche Maßnahmen den Trinkwasserverbrauch so zu reduzieren, dass nicht von der gewöhnlichen "nach Bedarf"-Verteilung auf rationierte Verteilung umgestellt werden müsste, was viel nerviger wäre.
Regenrückhaltebecken und Entsiegelungen lagen im Bereich des Handlungsspielraums des Komitees, der keine weiteren Entscheidungen brauchte. Sie wurden trotzdem mit etwas Vorlauf öffentlich angekündigt, sodass alle den Prozess stoppen konnten. Das kam immer mal wieder vor, war aber nicht weiter schlimm, da dann in einem gemeinsamen Gespräch Lösungen gefunden werden konnten. Maßnahmen wie Regenwassersammel- oder Abwasser-Aufbereitungsanlagen, die Zeit- oder Material-intensiver waren, brauchten vor der Umsetzung eine breite Zustimmung aller in der betroffenen Region. Da wegen begrenzter Zeit- und Energieressourcen sowie anderer knapper Ressourcen wie Kupfer und Zinn nicht alle baulichen Ideen umsetzbar waren, hatte es eine unabhängige wissenschaftliche Analyse, sowie eine öffentliche Diskussion in unterschiedlichen Medien über die verschiedenen Optionen gegeben.
Nach kurzer Zeit gab es einen breiten Konsens für die Kombination von einigen wassersparenden Tröpfchenbewässerungsanlagen für die landwirtschaftliche Produktion sowie zahlreichen dezentralen Regenwassersammelsystemen, wovon das Wasser wieder gemeinschaftlich genutzt werden würde. Die Idee der überregionalen Wasserversorgungsleitung fand nicht genügend Zustimmung, da die Wetterdaten der vergangenen Jahre zeigten, dass es äußerst selten zu Situationen gekommen war, in denen benachbarte Regionen wesentlich mehr oder weniger Trinkwasser zur Verfügung hatten als diese und ein Ausgleich sinnvoll gewesen wäre. Sie wollten diese Option jedoch in einigen Jahren noch einmal auf überregionaler Ebene diskutieren, da sie in Katastrophensituationen mehr Versorgungssicherheit bieten könnte.
Die für die vereinbarten Maßnahmen notwendigen Materialien wurden, sofern sie als knapp eingestuft waren und deshalb statistisch erfasst wurden, von dem Kontingent der Region abgezogen. Das Zinn beispielsweise, das für die Regenwassersammlung benötigt wurde, war knapp und es hatte vor fünf Jahren eine planetare Vereinbarung im Sinne der Generationengerechtigkeit geben, die den pro Person und Jahr Verbrauch beschränkte, wodurch sich für jede Region entsprechend der Bewohner*innenzahl ein Jahreskontingent ergab. Der Verbrauch aller Regionen war im Internet einsehbar. Es gab bei Überschreitung des Verbrauchs keine Strafen, jedoch einen kleinen öffentlichen Skandal, jedenfalls falls die Region keine akzeptablen Begründungen dafür hatte.
Das Arbeitskoordinationskomitee war für die Verteilung der für die vereinbarten Maßnahmen notwendigen Tätigkeiten zuständig, zumindest, wenn sich das nicht organisch ergab. So benötigten beispielsweise die regionalen Baukollektive vorübergehend einige zusätzliche Arbeiter*innen, um all die Wassergruben für Auffangbehälter und Versickerung auszuheben. Das Arbeitskomitee sorgte auch dafür, dass Bo neben der spannenden Tätigkeit im Trinkwasserkomitee, für die Bo etwa 10 Stunden pro Woche nutzte, auch andere, weniger beliebte Tätigkeiten wie Straßenreinigung zugeteilt bekam. Eine Arbeitszuteilung war kein Zwang und das Komitee nahm auf persönliche Vorlieben Rücksicht. Doch da die Rotation unbeliebter Tätigkeiten als sinnvolle und faire Vereinbarung galt, widersetzte sich dem kaum wer.
Die Einrichtung des Trinkwasser-Koordiationskomitees lag nun schon zwei Jahre zurück, der Verbrauch war deutlich reduziert worden, die Versorgungslage war jedoch nach wie vor kritisch. Bo hatte Lust, sich auf einem anderen Gebiet einzubringen, das weniger von Knappheit betroffen war und die Verantwortungsrotation sah sowieso vor, dass eine andere Person Bo's Stelle im Komitee einnehmen sollte.
Bo hatte heute frei und schlenderte mit Finn, einer Freundin, durch das größte Bekleidungsverteilerzentrum der Region, um nach Sommerhosen und neuen Schuhen zu suchen. Sie fanden schnell ein paar passende Hosen in der Ecke mit gebrauchten Kleidern. Wegen Bos spezieller Fußform wollte Bo die Schuhe lieber maßanfertigen lassen. So ließen sie Bos Füße neu vermessen und suchten im Internet ein passendes Modell aus. Die Bestellung würde in zwei Wochen in Bos lokalem Verteilerzentrum abholbereit sein.
Finn war in einer Smartphone-Fabrik tätig, die reparaturfähige Geräte herstellte und defekte reparierte. Die Fabrik deckte den Bedarf des ganzen Kontinents, der einerseits wegen größerer Langlebigkeit der Geräte und andererseits wegen der Kontingente von knappen Rohstoffen im Vergleich zu vor der Revolution stark zurückgegangen war. Das Fabrikkollektiv beobachtete die Statistiken von Neu-Bestellungen und Reparaturanfragen genau, um daraus den Bedarf für die nächsten Monate und Jahre abzuschätzen. Das war auch für die Lieferketten wichtig, denn die Produktion brauchte viele Teile aus anderen Fabriken, die wiederum auf Teile und Rohstoffe von anderen Kollektiven weit über den Kontinent verteilt angewiesen waren.
Bo hörte interessiert Finns Erzählungen zu den Lieferketten zu: Grundsätzlich funktionieren die Lieferketten so, dass Zulieferer erst einmal von etwa gleichbleibendem Bedarf ausgehen, wenn nicht Produktionsstätten veränderten Bedarf durch sich ändernde Stückzahlen oder sich ändernde Produkte oder Produktionsverfahren anmelden. Auch Veränderungen in der Einschätzung der Knappheit von Rohstoffen und damit verbunden Kontingenten, können Lieferketten beeinflussen. All diese Informationen sind transparent für alle Beteiligten einsehbar. Durch diese offene Kommunikation sind die Lieferketten gut aufeinander abgestimmt. Die Lieferketten-Transparenz hat zudem den Vorteil, dass die faire Verteilung knapper Güter in die Regionen überprüft und angepasst werden kann.
Wie Finns Kolleg*innen merkte auch Finn, dass Bo etwas depressiv verstimmt war. Bo meinte, es könne an der langen Beschäftigung mit dem knappen Gut Wasser liegen. Sie gingen gleich zusammen zu einem nahegelegenen Gesundheitszentrum. In einem Gespräch mit einer Person dort wurde beschlossen, dass Bo zunächst von Arbeitszuteilungen befreit und wöchentliche Besuche von einer Psychotherapieperson bekommen wird. Bo musste sich um nichts weiter kümmern. Die wöchentlichen Besuche, sowie die Kur und die Therapiegruppe, die die Therapieperson für Bo organisiert hatte, halfen. Gemeinsam fanden sie nach einigen Monaten einen neuen Arbeitsbereich in einem Gemüseanbau, in dem Bo zweimal in der Woche aushalf. Bo hatte Freude daran, die Pflanzen beim Wachsen zu unterstützen.
Während der Kur-Zeit hatte Bo gar nicht mitbekommen, dass in der jährlichen Perspektivendiskussion der Region beschlossen worden war, das regionale Forschungszentrum mit neuen Apparaturen und weiteren Arbeitskräften auszustatten, um sich langfristig an der planetaren kooperativen Forschung nach umweltschonenden Abwasseraufbereitungsanlagen zu beteiligen. Bo freute sich, dass gute Entscheidungen auch ohne die eigene Beteiligung getroffen werden.