Dies ist eine 2022 überarbeitete Fassung eines Texts, der 2008 im Kontext einer Veranstaltung der Libertären Gruppe Kaiserslautern (LGKL) entstand.
Was ist Selbstverwaltung? Was ist Selbstorganisation? - Begriffsklärungen
Warum Selbstverwaltung?
Lip - Beispiel einer Selbstverwaltung und deren Effekte
StrikeBike, SSM und noch mehr Beispiele
Was macht Selbstverwaltung mit den Menschen?
Kritik an und Probleme mit Selbstverwaltung
Vereinnahmung der Selbstorganisation durch den Kapitalismus
Fragen
Links
Selbstverwaltung als gesellschaftskritischer Begriff bezeichnet die Kontrolle von Projekten und Betrieben durch basis- oder Räte-demokratisch organisierte Gruppen, in der Regel Kollektive. Die Arbeiter_innenselbstverwaltung wird nach anarchosyndikalistischer Theorie durch Fabrik- und Landbesetzungen erreicht. In einer selbstverwalteten Gesellschaft werden alle Entscheidungen von denen getroffen, die davon betroffen sind. Was zu tun ist entscheiden also die, die die Tätigkeit ausführen, in Absprache mit denen, die die Produkte oder Dienstleistungen benötigen.
Der Begriff Kollektiv (lat: colligere zusammensuchen, zusammenlesen) bezeichnet eine Lebens- oder Arbeitsgemeinschaft, in der die Aufgaben gemeinschaftlich angegangen werden; seltener eine "ganze Gesellschaft". In anarchistischen, kommunistischen und autonomen Vorstellungen von herrschaftsfreien und gesamtverantwortlichen Gemeinschaften ist Kollektivität ein angestrebter politischer Prozess. Kollektivität meint hier keine Einengung der Individualität. Das Verständnis von gemeinschaftlicher Verantwortung schließt auch die Verantwortung für den Schutz der Individualität ein. In der Kommunebewegung spielt der Kollektivgedanke eine primäre Rolle.
Entscheidungen werden oft auf Plena und im Konsens gefällt. Wichtig ist dabei, dass eine gute Kommunikationskultur gepflegt wird. Häufig bezahlen sich die Arbeiter alle den gleichen Lohn. Strukturen wie selbstverwaltete Betriebe oder Kommunen können die Grundbausteine für eine anarchistische Gesellschaft sein.
Selbstorganisation bedeutet sich in Bereiche, von denen mensch direkt betroffen ist, einzubringen, um diese nach den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten mitgestalten zu können. Dadurch wird das Gefühl des Ausgeliefertseins, der unendlichen Komplexität aller Zusammenhänge, der Hilflosigkeit, der Bevormundung, der Entfremdung, der Isolation, der eigenen Unfähigkeit und Bedeutungslosigkeit überwunden. Mensch eignet sich neue Fähigkeiten an, lernt Bedürfnisse in seinem Umfeld zu erörtern und zusammen mit anderen Lösungen zu finden, die der Gruppe der davon Betroffenen möglichst gut gerecht wird.
Selbstverwaltung bezieht sich meist auf die Selbstorganisation von Betrieben und Fabriken oder anderen "juristischen Personen". Selbstorganisation ist ein umfassenderer Begriff, der auch auf andere Bereiche angewandt wird. (Selbstorganisation spielt beispielsweise auch in der Theorie der Kybernetik (engl. Text) eine Rolle.)
Selbstverwaltung bedeutet, dass die, die von Entscheidungen betroffen sind, diese gemeinsam fällen. Egal ob es um Produktion, Organisation oder Lohn geht.
Es gibt viele Gründe für Selbstverwaltung. Das folgende ist eine leicht idealisierte Darstellung, die in den Grundzügen jedoch auf reale Selbstorganisations-Projekte zutrifft.
Wenn Arbeiter_innen nicht künstlich dumm gehalten werden, wissen sie selbst am besten, was schiefläuft, was gut läuft und wie ihre Arbeitsabläufe sind. Denn sie sind schließlich die, die die Arbeit jeden Tag praktisch ausführen. Deshalb sollten ihr Wissen, ihre Ideen und Anregungen in Entscheidungen einfließen - deshalb sollten sie an Entscheidungen beteiligt sein. Hinzu kommt, dass die gesammelten Ideen und Gedanken, das gemeinsame Suchen nach einer Lösung, meist zu besseren Ergebnissen führt, als Entscheidungen, die von einzelnen getroffen werden. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass das so ist (Stichwort Schwarmintelligenz) und es ist auch intuitiv klar, denn keine_r kann alleine alles gleichzeitig bedenken, gerade wenn es um komplexe Organisationsabläufe geht (siehe Theorie der Kybernetik (engl. Text)).
Arbeiter_innen sollten auch deshalb an Entscheidungen beteiligt werden, weil sie von den Konsequenzen der Entscheidungen betroffen sind, weil sie die Beschlüsse ausführen müssen. Sind die Arbeiter_innen an Entscheidungen beteiligt, verstehen sie diese besser, können sich mehr damit identifizieren und setzten sie daher dann auch mit mehr Eigenantrieb um. Selbst wenn der gemeinsame Entscheidungsprozess zeitintensiver als eine Entscheidung von oben ist, ist die Umsetzung effizienter als eine aufgezwungene Entscheidung, hinter der die Arbeiter_innen nicht stehen können.
Dadurch, dass die Arbeiter_innen über ihre Belange mitentscheiden können, entsteht ein höherer Grad der Selbstverwirklichung und Zufriedenheit. Es wird wieder klarer, worin der Sinn der ausgeführten Tätigkeit besteht und warum mensch sie ausführt (das wird ja schließlich selbst entschieden!). Durch die Beteiligung an den Entscheidungen können die Arbeiter_innen wichtige Fähigkeiten wie Kommunikationstechniken, Übernahme von Verantwortung für die eigene Tätigkeit oder Methoden der Organisation erwerben. Im Abschnitt Was macht Selbstverwaltung mit den Menschen? steht noch mehr über die Effekte, die Selbstverwaltung auf einzelne und Gruppenzusammenhänge haben kann. Mit dem Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten (ich trage zum Großen Ganzen bei) steigt über die gemeinsame Organisation auch der Zusammenhalt und das Vertrauen in die Gemeinschaft (wir schaffen gemeinsam etwas und halten zusammen).
Dass Selbstorganisation eine gute Idee ist, sieht mensch auch daran, dass sie vom Kapitalismus vereinnahmt (kooptiert) wurde (siehe unten).
Ist Selbstverwaltung also das Wundermittel gegen viele bestehende Missstände? Sicher gibt es - gerade beim Versuch, Selbstverwaltung innerhalb des kapitalistischen Systems, das auf Machtverhältnissen und künstlich geschaffener Ungleichheit beruht, umzusetzen - einige Probleme, Startschwierigkeiten und Stolpersteine. Andererseits zeigen die in den folgenden Abschnitten beschriebenen Beispiele von Selbstverwaltung in der Praxis viele der hier geschilderten wohltuenden Effekte. Das beweist zum einen, dass es sehr wohl Alternativen zu den uns als alternativlos dargestellten Machtverhältnissen gibt. Zum Anderen wird aus dem oben geschriebenen klar, dass es - auch für jedes einzelne Individuum selbst - viele Vorteile bietet, sich mit Selbstverwaltung zu beschäftigen und die praktische Umsetzung zu versuchen.
Schließlich erscheint es bei näherer, unvoreingenommener Überlegung und beim Stellen gar nicht so provokativer Fragen ganz selbstverständlich und ganz logisch, dass jede_r das mitentscheidet, was sie_ihn betrifft, dass nicht um Lohn gebettelt werden müsste, sondern sich jeder das nehmen könnte, was einem sowieso gehört, dass also Selbstorganisation die gerechte Lösung und Ordnung ist, die es anzustreben gilt.
Gegenwärtig ist Arbeit meist so organisiert, dass überall Machtverhältnisse auftauchen: Aus Abhängigkeitsverhältnissen entstehen Befehls- und Machthierarchien (Chef_in sagt, wo's lang geht). Bürokratie und Informationshierarchie stabilisieren diese Machtverhältnisse weiter (Chef_in sammelt alle Informationen, hält die Arbeiter_innen aber dumm). Damit zusammen fallen oft Lohn- und Einkommenshierarchie (Chef_in zahlt seinen Arbeiter_innen weniger Lohn als sich selbst). Diese Hierarchien führen wieder zu Abhängigkeitsverhältnissen und so dreht sich alles im Kreis.
In zentralistischen Systemen fließen die Informationen von unten nach oben, wobei wichtiges verloren geht, und zirkulieren nur bedingt, während die Entscheidungen sich von oben nach unten bewegen. Dieses Missverhältnis führt immer wieder zu Fehlplanung, Verschwendung, Ineffizienz und unzufriedenen Arbeiter_innen, da Chef_innen nicht alles über den Betrieb wissen können, da die Arbeiter_innen, die das Wissen haben, nicht gefragt werden und da die Arbeiter_innen nicht genügend Informationen bekommen, um den Sinn ihrer Arbeit zu verstehen. Warum gibt es trotzdem zentralistische Arbeitsorganisation? Warum wird sie häufig sogar als alternativlos dargestellt?
Zentralistische Arbeitsorganisation dient vor allem der Erhaltung des jetzigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Da davon aber nur wenige profitieren (die Chef_innen nutzen ihre Machtposition, um beispielsweise Lohnsenkungen oder Entlassungen durchzusetzen), empfiehlt es sich, die angebliche Alternativlosigkeit zu hinterfragen!
Dass Selbstverwaltung nicht nur in der Theorie und Utopie super sind, sondern auch praktisch realisierbar, sollen die nächsten Abschnitte mit Beispielen aus der Praxis zeigen.
1973 beginnt in der französischen Stadt Besançon ein soziales Experiment: Weil die Arbeiter_innen der Uhrenfabrik Lip um ihre Arbeitsplätze fürchten, besetzen sie ihre Fabrik und übernehmen die Uhrenproduktion in Eigenregie. Zwei Monate lang gelingt es ihnen, die Produktion weiterzuführen, Konzepte selbstbestimmter und gleichberechtigter Arbeit zu erproben und Entlassungen zu verhindern, bis die Fabrik von der Polizei gestürmt und 1975 schließlich zerschlagen wird. (Besançon war übrigens auch der Geburtsort eines bekannten Anarchisten: Pierre-Joseph Proudhon.)
Am 12. Juni 1973 wird der Betrieb besetzt, die Uhren und die Produktionsmittel beschlagnahmt und auf Beschluss der Vollversammlung die Produktion selbstorganisiert wieder aufgenommen. Außerdem wurde das Leben in die Fabrik zurückgeholt: Kinder kamen mit in die Fabrik und in der eingerichteten Volksküche fanden auch die Arbeitslosen der Umgebung Verpflegung. Als die Polizei am 15. August den Betrieb räumt, haben viele der Arbeiter_innen nicht nur gelernt, dass sie ihre Arbeit ohne Chef_in organisieren können, sondern sich gleichzeitig auch neue, kommunikative Fähigkeiten und politische Kenntnisse angeeignet. Das Resümee, das die Leute von Lip in Bezug auf dezentrale Organisation ziehen konnten, war, dass sie 1. funktioniert, 2. Externe eingliedern kann, 3. stabil ist, auch wenn "wichtige" Leute fehlen und 4. sicher ist (z.B. Uhr-Verstecke, die nicht gefunden wurden).
Aktuell (2007) in die Diskussion gebracht wurde die Geschichte von Lip durch den Film "Lip oder die Macht der Phantasie".
Filmbeschreibung: Darin erzählen die Akteur_innen von damals, wie sie die Ereignisse erlebt haben, warum sie sich zur Fabrikbesetzung und selbstorganisierten Produktion entschieden haben, wie diese funktionierte, was sie dabei gelernt haben und wie sie sich selbst dadurch entwickelten.
Update 2022: Die deutsche Fassung finde ich nicht mehr, hier ist jedoch die französische Originalfassung.
Dieser englischsprachige Artikel beschreibt den Einfluss von Lip.
Ein Artikel in der SoZ beschreibt, was wichtige Aspekte für das Funktionieren der Selbstverwaltung bei Lip waren: eine betriebliche Kommunikationskultur und eine Form von Interessenvertretung, die dem einzelnen Belegschaftsmitglied die volle Kontrolle gibt.
Welche Vorteile Kommunikation und Solidarität haben, erfuhren junge Mitarbeiter_innen bei der Wissensweitergabe: Während die alten Kolleg_innen ihr Wissen kaum weitergaben, organisierten die jungen regelmäßige Treffen, um ihr Wissen auszutauschen. Aus dieser Erfahrung wurde auch bei anderen Fragen wie Leistungszulage bei Überstunden oder Transparenz von Lohnstufen auf kollektive Organisation gesetzt. Durch gemeinsames Beschaffen und offenes zur Verfügung Stellen von Informationen konnten Missstände aufgedeckt, öffentlich gemacht und durch kollektiven Widerstand Erfolge gegenüber der Betriebsleitung erzielt werden.
Die Lip-Arbeiter_innen eigneten sich dabei (Kommunikations-)Strukturen und -Techniken an: Vollversammlungen, Debatten, Freiheit der Information, Informationstafel, sich gegenseitig zuhören, Delegierte aus jeder Abteilung (egal ob Gewerkschaftsmitglied oder nicht - das Vertrauen zählte), Diskussion in Kleingruppen (mit Leuten zusammen sein, bei denen mensch sich wohlfühlt, nicht ausgelacht wird und mensch sich traut mehr zu sagen und beizutragen), Respekt von Minderheitsmeinungen. Das dabei gewonnene Selbstvertrauen versetzte die Lip-Arbeiter_innen in der Lage, sich weiter kollektiv für ihre Rechte einzusetzen, sich nicht dem Schicksal zu ergeben, als Entlassungen nach einer Übernahme drohen, und dann in letzter Konsequenz die Produktion in Eigenregie zu übernehmen. Für die Kommunikation nach außen wurde ein Netzwerk von Journalist_innen und anderen Menschen, die Informationen verbreiten konnten, aufgebaut. Darüber wurden dann die neusten Nachrichten von Lip kommuniziert. Umgekehrt konnten über das Netzwerk auch wieder Information von außen (z.B. über Standorte der Polizei) zu den Arbeiter_innen bei Lip gelangen.
Während der Zeit der Betriebsbesetzung und selbstorganisierten Produktion haben die Leute von Lip begonnen, das, was gewöhnlich als "gerecht" und normal gilt, zu hinterfragen und eine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit zu entwickeln. Es erschien ihnen zunächst als ungerecht, ihre Arbeit zu verlieren. Weil sie nicht verstanden haben, was da auf Chef_innen-Ebene entschieden wird, haben sie sich ganz logisch überlegt, die Verwalter so lange da zu behalten, bis klar ist, was passiert. Als sie merkten, dass es zu heikel ist, Menschen "als Geisel" festzuhalten, kamen sie auf die geniale Idee, die Uhren "als Geisel" zu nehmen. Nach einigen Bedenken, ob das Diebstahl oder gar "Sünde" sei, waren sie schließlich überzeugt, dass es nur "gerecht" ist, sich auf diese Art zu verteidigen und das, was sie hergestellt hatten, an sich zu nehmen. "Ungerecht" und unerklärlich erschien ihnen die Besetzung durch die Polizei und deren Gewaltanwendung. Sie selbst hatten nur nach ihrem Verständnis von Gerechtigkeit gehandelt und keine Gewalt angewandt und wurden nun mit Gewalt zu einer anderen "Gerechtigkeit" gezwungen.
Bei der Besetzung und selbstverwalteten Produktion bei Lip waren viele Vertreter_innen der anarchistischen Gewerkschaft CFDT aktiv. Da aber Entscheidungen stets im Plenum getroffen wurden und alle Arbeiter_innen - egal ob und in welcher Gewerkschaft sie waren - reden und sich beteiligen konnten, spielte die Gewerkschaftszugehörigkeit keine Rolle. Bemerkenswert war aber, dass die große Gewerkschaft CGT immer wieder ausbremsend auf die Ideen und Aktionen der Arbeiter_innen wirkte. Die CGT fand es befremdlich, auch Nicht-Gewerkschaftler_innen in Komitees anzuhören. "Die Gewerkschaftsvertreter bekommen Panik - sind nur noch einer von vielen." Die Idee der Selbstverwaltung fand die CGT nur nach einiger Überzeugungsarbeit ok. Eine lokale CGT-Vertreterin, die die Aktion unterstützte, wurde mit "Du bist nicht politisch, du bist sozial" von oberen CGT-Funktionären getadelt. (Sie antwortete darauf "genau so ist es".)
Ein recht aktuelles Beispiel von Fabrikbesetzung und Produktion in Selbstverwaltung ist StrikeBike.
Durch mehrere Hin- und Herverkäufe wurde 2006/2007 das Fahrradwerk in Nordhausen in den Ruin getrieben. Die Arbeiter_innen haben zunächst den Betrieb besetzt (offiziell war es eine über viele Tage andauernde Betriebsratssitzung) und durch Aktionen in der Öffentlichkeit auf ihre Lage aufmerksam gemacht. Sie bekamen während dieser Zeit viel solidarischen Besuch von unterschiedlichen Gewerkschaften und anderen Gruppen. Durch deren Anregungen motiviert, haben sie schließlich beschlossen, mit Unterstützung der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU (freie Arbeiter_innen Union) eine Woche lang selbstorganisiert Fahrräder zu produzieren. Damit wollten sie zum einen zeigen, dass sie auch ohne Chef_in in der Lage sind, Fahrräder zu produzieren, und zum anderen noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregen, was ihnen gelungen ist. Ein ausführliches Interview mit einem Aktivisten nach der Aktion in wildcat. Die Leute von StrikeBike versuchen nun, eine kleine selbstverwaltete Fahrradmanufaktur aufzubauen. (Update 2022: Es wurden viele Fahrräder verkauft, jedoch ist der Betrieb mittlerweile eingestellt.) Ähnlich wie im Fall von Lip wurde bei StrikeBike die Erfahrung gemacht, dass die Unterstützung einer kleinen anarchistischen Gewerkschaft mehr Schlagkraft, als die einer großen etablierten Gewerkschaft hat. Siehe dazu diesen Artikel: telepolis: Strike-Bike und die Schlagkraft der kleinen anarchistischen Gewerkschaft FAU
Die SSM (Sozialistische Selbsthilfe Mühlheim) ist ein seit 1979 bestehendes Arbeits- und Lebensprojekt in Köln. Ganz unterschiedliche Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt schlechte Chancen hätten, haben sich in der SSM zusammengefunden. Sie teilen sich ihre Arbeit in ihren selbstverwalteten Betrieben und Projekten selbst ein und bezahlen sich selbst alle wöchentlich das gleiche Taschengeld. Ihre Gemeinschaft ist so stabil, dass sie nicht nur schon lange besteht, sondern auch geistig beeinträchtige Menschen integrieren kann.
Bei Kommunen allgemein geht es nicht nur um selbstorganisiertes Arbeiten, sondern auch um gemeinsames Leben. Politische Kommunen haben den Anspruch, Beispiel einer alternativen Gesellschaftsorganisation zu sein und ändernd auf die Gesellschaft zu wirken. Viele denken bei "Kommune" zunächst an die historischen Beispiele Kommune 1 und Kommune 2 und die damit verbundenen Vorurteile. Dabei gibt es aktuell eine starke politische Kommunebewegung mit vielfältigen und ernst zu nehmenden Lebens- und Organisationsentwürfen.
Nach Zusammenbruch der Wirtschaft haben ab 2001 in Argentinien viele Arbeiter_innen die Besetzung von Fabriken und selbstverwaltete Produktion in Kooperativen als möglichen Weg und Selbsthilfe aus der Krise entdeckt. 80 der 120 Fabrik-Kooperativen haben sich zu einer landesweiten Bewegung für instand besetzte Fabriken zusammengeschlossen, um die eigenen Interessen besser vertreten zu können. Artikel in der WOZ.
Vieles mehr lässt sich zusammen besser (zeit- und kostengünstiger, weniger einsam, motivierender...) organisieren als alleine. Dabei sind die Gemeinschaften mal größer und mal kleiner, mal sehr intensiv und mal nur auf ein wenig umfassendes Thema/Projekt begrenzt: Hausgemeinschaften, Car-Sharing, gemeinsame (Alltags- oder Vermögens-)Ökonomie, gemeinsames Anschaffen und Verwalten von großen Maschinen/Werkzeugen, Großküche, Nachbarschaftshilfe-Netzwerke, Bau eines Spielplatzes, lokale umweltfreundliche Energieversorgung, Kinderbetreuung, Kulturzentrum, Bibliothek ...
Die Sesamstraße erklärt: Cooperation makes it happen. (Engl. Musik)
Zitat aus Betriebsbesetzungen in der Krise - Alix Arnold zur Situation selbstverwalteter Fabriken in Argentinien: Es war nicht ihr Ziel, »ohne Chef zu arbeiten« oder gar die Welt zu verändern. Sie wollten lediglich ihre Arbeitsplätze retten und ihre Identität als Arbeiter verteidigen. Mit den Betriebs-Übernahmen kam aber eine unvorhergesehene kollektive Dynamik in Gang. In vielen Fällen mussten die ArbeiterInnen heftige Konflikte durchstehen, um den Betrieb »zurückzuerobern«. Mit der Rückkehr in den Betrieb wurden überall die Hierarchien außer Kraft gesetzt und gleiche Rechte für alle eingeführt. Alle bekamen den gleichen Lohn, und die Versammlung wurde zum obersten Entscheidungsgremium. Erleichtert wurden diese Prozesse dadurch, dass sich Vorgesetzte und höhere Angestellte bei den Übernahmen aus dem Staub machten. Zurück blieben die ArbeiterInnen, die sich plötzlich mit ganz neuen Aufgaben konfrontiert sahen. Im Rückblick wird für sie »die Freiheit, ohne Chef zu arbeiten« zur wichtigsten Veränderung, neben der Ruhe bei der Arbeit und dem guten und gleichberechtigten Verhältnis zu den KollegInnen. Die Erfahrung, plötzlich selbst einen Betrieb managen zu können und sich gleichzeitig politisch auf Neuland zu begeben, führte zu weitergehenden Diskussionen, bis hin zu öffentlichen Erklärungen der politisiertesten ArbeiterInnen: »Wenn wir die Fabriken leiten können, sind wir auch in der Lage, das Land zu regieren.«
Auch der Film zur Geschichte von Lip verdeutlicht, dass "ganz normale" Arbeiter_innen nach einigen Wochen Selbstverwaltung wie ausgewechselt sind. Zunächst sind Kreativität und Enthusiasmus aufgeflammt. Nach kurzer Zeit bildete sich dann ein Gemeinschaftsleben heraus, in dem solidarischer Zusammenhalt, herzliche gegenseitige Unterstützung und Vertrauen ganz selbstverständlich waren. So berichteten z.B. einige, dass sie selbst in Extremsituationen wie Polizeigewahrsam keine Angst hatten, da sie auf die Gemeinschaft vertrauen konnten. Die "Übernahme von Verantwortung", die für viele negativ klingen mag, hat im Zusammenhang mit Selbstverwaltung zahlreiche positive Effekte. Zitat aus Lip: "Es zählte nicht, ob man einen Fehler machte, sondern dass man mit machte." Verantwortung zu tragen bedeutet, eine Rolle zu spielen, Hemmungen zu überwinden, sich neue Fähigkeiten anzueignen. Insbesondere von schüchternen Menschen und auch von Frauen, denen die Arbeiter ursprünglich wenig zutrauten, wird berichtet, dass sie regelrecht aufblühten. Die Männer und die, die sich sonst in den Vordergrund stellten, mussten dabei lernen, dass es nicht nötig ist, dass sie im Mittelpunkt stehen. Sie mussten tolerant gegenüber der Mitarbeit und Meinung anderer werden. Sie lernten, dass "Erfolg zu haben heißt, keine Anführer mehr zu brauchen".
Wenn Selbstverwaltung so toll ist, wie hier beschrieben wird, warum ist sie dann so selten anzutreffen? Das könnte pauschal mit dem Spruch "Es ist kein richtiges Leben im falschen möglich" beantwortet werden. Was dieser fatalistische "wir warten auf die Revolution"-Spruch sagen will, ist, dass es schwierig ist, innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems ein alternatives System aufzubauen. Denn das kapitalistische System wird darauf nicht nur repressiv reagieren, das alternative System ist zudem meist gezwungen, mit der kapitalistischen Umwelt zu interagieren und muss daher auf diese zugehen und Kompromisse schließen. So besteht bei Projekten in Selbstverwaltung häufig die Gefahr der Selbstausbeutung, um im umgebenden Markt bestehen zu können.
Ein weiterer Kritikpunkt an Selbstverwaltung ist, dass diese nur eine Insellösung, die nicht systemgefährdend, sondern eher nischenbildend und daher erhaltend, sei. Diese Diskussion um "revolutionär" oder doch "reformistisch" hilft jedoch nicht weiter. Wenn die Motivation hinter einem selbstverwalteten Projekt eine revolutionäre ist, dann ist auch das Projekt revolutionär. In einem revolutionären Kontext ist ein selbstverwaltetes Projekt Beispiel, Freiraum und Basis für weitere Aktionen. Gerade der Punkt "Freiraum" ist wichtig. Denn wenn es keine "Inseln" und "Freiräume" gibt, kämpft mensch alleine mit den maßlosen Forderungen des kapitalistischen Systems und hat daher keine Kraft und Lust mehr, sich für Gemeinschaftsleben zu engagieren. Selbstverwaltete Projekte können auch als Keimform oder Präfiguration einer zukünftigen Gesellschaft gesehen werden. D.h. wenn die Anzahl solcher Projekte zunimmt, können sie systemrelevant und irgendwann systembestimmend werden. Mehr zur Transformation in andere Gesellschaftsformen in diesem Text.
Viele meinen, dass Selbstverwaltung das ist, was mehr Stress macht als nötig. Sie finden es bequem, von anderen Entscheidungen abgenommen zu bekommen. Dass sie sich damit langfristig abhängig und damit oft erpress- und ausbeutbar machen, merken viele erst, wenn es zu spät ist. Am Anfang mag Selbstverwaltung mühselig erscheinen. Die Besprechungen und Entscheidungsfindungsprozesse ziehen sich in die Länge und das Gefühl entsteht, dass "nichts passiert". Nach kurzer Zeit und etwas Üben kann mensch aber lernen, dass es möglich ist, auch gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse konzentriert und schnell durchzuführen und dass die kollektiv getroffenen Entscheidungen wirkungsvoller sind, da die Gruppe dahinter steht und diese mitträgt.
Wie oben erwähnt, können Nischenprojekte aus kapitalistischer Sicht zur Befriedung von Andersdenkenden dienen. So viel Revolution ist im kapitalistischen System vorgesehen.
Doch hat der Kapitalismus Konzepte der Selbstorganisation noch in anderer Weise zu seinem Nutzen vereinnahmt: Viele moderne Betriebe setzen auf flache Hierarchien, Mitbestimmung und Partizipation, dezentrale Organisation und Verantwortungsübernahme, Selbstreflexion (Retrospektiven) und implementieren so Selbstorganisationsprinzipien in ihren Strukturen. Ein Beispiel dafür sind Organisationsformen wie Holokratie und Soziokratie. Wenn diese Organisationsformen Teil von Betrieben sind, die weiterhin durch Chef_innen und nicht durch Arbeiter_innen "geführt" werden, kann es sich jedoch nur um pseudo-Selbstorganisation handeln, da diese an den von den Chef_innen und "wirtschaftlichen Notwendigkeiten" gesetzten Grenzen aufhört - das große Ganze kann nicht beeinflusst werden. So kann Mitarbeit in solchen Unternehmen zunächst empowernd wirken, später jedoch auch zum Burnout führen. Ziel der Inkorporation von Selbstorganisationsmethoden sind neben einem zeitgemäßen Image unter anderem Selbstverwirklichung und Zufriedenheit der Mitarbeitenden, um deren Selbstausbeutung weiter anzutreiben. Auch Ich-AGs waren ein Beispiel für neoliberale Selbstorganisation und Selbstverantwortung mit der Tendenz zur Selbstausbeutung.
In diesen modernen Teams sind die Chef_innen oft keine nutzlosen Kontrolleure und Verwalter_innen mehr, die einfach rausgeschmissen werden könnten, sondern Teil des Teams. Sie versuchen, sich kumpelhaft als gleichberechtigten Teil zu präsentieren. Nach dem Grundsatz "lead by example" übernehmen sie - wie die Arbeiter_innen - Verantwortung für bestimmte Arbeitsbereiche und stellen ihre eigene Selbstausbeutung als leuchtendes Beispiel zur Schau.
Sind in einer solchen Situation Betriebsbesetzungen unrealistisch geworden? Es hängt vom Betrieb ab. Betriebsbesetzungen sind jedoch nicht das einzige Mittel zum Systemwechsel. Möglich sind auch Enteignungen, bei denen Betriebe und Fabriken an die Gesellschaft abgetreten werden. Zudem lassen sich auch mit im Kapitalismus gewonnen Selbstorganisationserfahrungen neue emanzipatorische Kooperativen und Keimformen aufbauen.
Mal so gefragt:
Mehr erfahren über Selbstverwaltung kannst Du durch den praktischen Selbstversuch. Such Dir ein selbstverwaltetes Projekt und mach mit oder baue mit einigen Freund_innen selbst eines auf.