Die Gesellschaft – Ein Krankheitserreger

Aus der Theorie des Sozialkritikers Paul Goodman

Der folgende Text ist teilweise aus den unten genannten Quellen zusammengesetzt, d.h. er ist nicht komplett selbst geschrieben und die Quellen sind nicht eindeutig gekennzeichnet.

Wenn man Husten hat, weiß man genau, worin die Heilung bestünde: Keinen Husten mehr haben. Doch was ist, wenn man Probleme hat, sich im Leben zurechtzufinden, unzufrieden mit sich selbst ist oder auf nichts mehr Lust hat? Kann man von Leuten, deren Verhalten stark von irgendwelchen (gesellschaftlichen) Normen abweicht, behaupten, sie seien krank? Was "krank" und was "gesund" ist, unterliegt den wechselnden gesellschaftlichen Definitionen, die nicht nur am Wohlergehen der Individuen, sondern auch – und oft vornehmlich an Herrschaftsinteressen ausgerichtet sind.

"Psychische Probleme" sind die gesunde und sinnvolle Antwort des Einzelnen auf irrationale und "kranke" gesellschaftliche Zustände.

Das jedenfalls ist die Aussage Paul Goodmans, des wichtigsten Theoretikers der Gestalttherapie. (Die Gestalttherapie ist eine humanistische Therapiemethode, die Mündigkeit der Menschen betont. Mitbegründer neben Goodman: Lore Perls, Fritz Perls.) Paul Goodman (1911-1972) war ein avantgardistischer Schriftsteller, mutiger Vorkämpfer für Schwulenrechte und anarchistischer Kriegsdienstverweigerer, der sich aktiv in der Protestbewegung der 1960er engagierte. Aus den Theorien der Psychotherapie versuchte er Erklärungen zu finden, warum die bestehende Gesellschaft dem Neuen ablehnend gegenüber steht, Außenseiter*innen (wie z.B. Schwule) ablehnt und bereit ist, sich im Massenkrieg selbst zu vernichten.

"Es ist der ganz alltägliche Terror, der dir langsam das Hirn zersägt" (Karl Nagel)

Die Entstehung des Gefühls, nicht gut genug zurechtzukommen, führt die Gestalttherapie auf die Unterdrückung der "Aggression" zurück. Aggression steht in der Gestalttherapie für die Fähigkeit des Menschen, die Umwelt mitzuprägen und an sich selbst anzupassen, um Teil dieser werden oder bleiben zu können. Durch Unterdrückung der Aggression wird der Kontakt und Austausch mit der Umgebung gestört und damit dem Organismus eine wichtige Lebensgrundlage genommen.

Begegnung ist eigentlich gar nicht vorgesehen in unserer Gesellschaft. (Martin Buber)

Die organisierte, befriedete und zentralisierte Gesellschaft entfremdet die Menschen ihrer sozialen Konflikte, unterbindet Aggressionen und schneidet sie so von der Fähigkeit zur Kontrolle über das eigene Leben ab. Anstelle von zielgerichteter Aggression gibt es dann blinde Destruktivität, die von den Menschen wiederum als angstmachende "Zunahme von Gewalt" erlebt wird.

Mit dem Verlust von Konflikten und Konflikt-klärenden Verhaltensweisen verschwindet der Gedanke an alternative Möglichkeiten und der Wille zur Veränderung.

Initiative, Vernichten, Zerstören und Wut sind nötig, damit ein Organismus in einem schwierigen Umfeld existieren und auch gut leben kann. (Doubrawa)

Eine ihrer inneren Konflikte und Leidenschaften enthobene, befriedete Weltgesellschaft, die das Ziel eigentlich aller politischen Bemühungen ist, produziert jedoch zugleich eine universelle Angst: Die Menschen werden ständig daran gehindert, sich "einzubringen", und sie entwickeln eine chronische Angst davor, ihre Bedürfnisse mit der notwendigen Aggressivität zu äußern. Diese chronische Angst richtet unvorstellbar zerstörerische Energien gegen das, was anders ist als man selbst.

Eine schlechte Gesellschaft ist eine solche, die auf den natürlichen Rhythmus und die Bedürfnisse des Individuums nicht eingeht oder sie sogar verzerrt. (Miller)

Wenn der einzelne Mensch seine Bedürfnisse nicht mehr "einbringen" kann, versucht er mehr und mehr, sie gar nicht erst zu spüren. Dies nennt die Gestalttherapie "Selbstkolonisation" oder "Selbstvergewaltigung".

Erst die Unterdrückung der Aggression führt zu individueller Destruktivität und kollektivem Krieg - also zu ungerichteter, ziellos gewordener negativer Aggression. (Doubrawa)

Der Konflikt wird äußerlich unbegrenzt: Schließlich akzeptieren die Menschen sogar den Gedanken an Krieg. Der Krieg ist nach gestalttherapeutischer Auffassung gar keine Aggression mehr, sondern "Massenmord ohne Schuldgefühl" (Goodman).

In einer Welt, die individuelle Bedürfnisbefriedigung weitgehend verhindert (alle Bedürfnisse werden entweder kollektiv befriedigt oder ihre Befriedigung wird abgelehnt), ist es "vernünftig", auf seine Vernunft zu verzichten. (Doubrawa)

Die gestalttherapeutische These, Neurosen (oder generell: psychische "Störungen", "Probleme" und "Krankheiten") seien die gesunde Reaktion auf eine kranke Umwelt, ist eine Provokation für eine bestehende Gesellschaft. Obwohl Gestalttherapeuten dem einzelnen Menschen zu helfen versuchen, soweit das geht, sehen sie ein, dass die eigentliche Heilung nur eine "Therapie der Gesellschaft" (Blankertz) bringen würde.

Menschen, die sich daranmachen, ihr volles menschliches Potenzial zurückzugewinnen, werden es unausweichlich ablehnen, in dieser Welt zu leben.

Aus der gestalttherapeutischen Vorstellung vom Lebensprozess folgen einige Bedingungen, die eine Gesellschaft erfüllen müsste, wenn sie als nicht krankmachend eingestuft werden sollte:

  1. Die Gesellschaft muss für die Initiative der einzelnen Menschen offen sein: Der einzelne Mensch muss Einfluss nehmen und seine Umwelt mitgestalten können. Die Gesellschaft muss Raum enthalten für die Konflikte der Menschen untereinander, in denen sie ihre Wünsche, Bedürfnisse, Ideen und Vorstellungen klären. Der einzelne Mensch sollte durch seine eigene Aktivität die Umwelt so gestalten können, dass sie dann zu ihm passt.
  2. Die Gesellschaft darf also nicht mit starren Regeln überfrachtet sein. Die Macht, mit der sie ihre Regeln durchsetzt, darf nicht übermächtig sein (repressive Gesellschaft). Die Gesellschaft darf andererseits auch nicht den einzelnen Menschen behüten und daran hindern, Erfahrungen zu machen (bevormundende Gesellschaft) oder den einzelnen Menschen rundum versorgen, ohne dass er sich dafür anstrengen müsste (übertrieben fürsorgliche Gesellschaft).

Die einzige politische Lehre, die zu diesen Bedingungen passt, ist der Anarchismus, also die Lehre von der herrschaftslosen Gesellschaft.

"Anarchie ist die einzige sichere Politik" (Paul Goodman)

Die Gesellschaft verbietet, was für sie gefährlich zu sein scheint, nämlich die aggressiven Ansprüche des einzelnen Menschen. Sie zerstört jedoch damit gleichzeitig die Lebensgrundlage für die Menschen (und sich selbst), deren Bedürfnisse eben nicht durchgängig sozial harmonisch sind.

Was wir nach Paul Goodman brauchen, um wieder gesund werden zu können, ist: "ein vegetativer Anarchismus, ein bisschen mehr Unordnung, Schmutz, Impulsivität und ein bisschen weniger Staat".

Aber das Meer, in dem die durch Therapie erneuerten Individuen auch weiterhin schwimmen müssen, ist nach wie vor durch Institutionen verseucht, die auf sexueller Unterdrückung und verzerrter Aggression durch Bürokratie, Werbung und Krieg basieren. (Miller)

  1. Der Staat erzwingt den Beitrag für die Gemeinschaft, genannt "Steuern", ohne Rücksicht darauf, ob der*die Steuerzahle mit der Gemeinschaft und der Verwendung der Mittel einverstanden ist. Mit diesen Steuern kann er dann seine Institutionen (Polizei, Armee, Justiz, Gefängnisse etc.) finanzieren, die nicht mehr auf die Zustimmung der einzelnen Menschen angewiesen sind.
  2. Der Staat schafft einen gesetzlichen Rahmen für die Sicherheit und die soziale Absicherung, der unabhängig von der Akzeptanz der diesem Rahmen unterworfenen Menschen mit dem Gewaltmonopol durchgesetzt wird. In einigen Fällen sind diese Regeln offen repressiv (Drogenverbote, Pflichtversicherungen etc.), in vielen Fällen werden sie jedoch von den Menschen durchaus als "Hilfe" (Schutz vor Kriminalität, Arbeits- und Mieterschutz, Kündigungsschutz, Sozialhilfe etc.) angesehen – aber es ist eine Hilfe, die der patriarchalen Fürsorge entspricht, nicht der Hilfe, die sich freie und selbstverantwortliche Menschen gegenseitig gewähren.
  3. Der Staat zwingt die einzelnen Menschen, bestimmte Leistungen, die er anbietet, anzunehmen, dazu gehören beispielsweise Bildung (durch Schulpflicht), Kranken- und Sozialversicherung (durch Pflichtversicherung) sowie Psychotherapie (durch Zwangseinweisungen).

Was tun?

Für jede anti-etatistische Bewegung stellt es nun das zentrale Problem dar, den Menschen gegen die staatliche Okkupation das "Bewusstsein der Autonomie" (Goodman) zurückzugeben und die "Gesellschaft zu rekonstruieren" (Gustav Landauer), d.h. sie in die Lage zu versetzen, das Zusammenleben ohne Staat zu meistern.

Was können Therapeut*innen den Einzelnen Gutes tun, die sich doch einer sozial verursachten Problematik gegenüber sehen? Auf der einen Seite sind Therapeut*innen sozialpsychologisch aufgeklärt und wissen um die gesellschaftlichen Wurzeln vieler Leiden der Klient*innen; auf der anderen Seite jedoch können sie weder den Klient*innen besser bei der Meidung von Leidensdruck helfen, als ihnen die Anpassung an die kranke Gesellschaft zu raten, noch können sie ihre materielle Absicherung anders erreichen, als sich der krankmachenden Gesellschaft zu unterwerfen.

Eine Gute Therapie kann die kreative Energie der Menschen aus der Gefangenschaft schmerzlicher Charakterbildung befreien und, so Goodman, die befreiten Individuen bewegen sich spontan auf eine soziale Revolution zu.

Quellen

Dieser Text war Teil einer Veranstaltungsankündigung der AG Kritische Uni an der Universität Kaiserslautern

Anmerkung 2025: Die von Blankertz vertretenen anarchokapitalistischen Ideen, die nichts mit Anarchismus zu tun haben, lehne ich ab. Paul Goodman hingegen vertrat einen pazifistischen Anarchismus der sowohl individualanarchistische als auch anarcho-kommunistische Aspekte vereinte.

2008/05