Vielleicht fühlst du dich als Anarchist*in allein und isoliert. Vielleicht bist du traurig oder frustriert, weil sich eine anarchistische Gruppe, die du kanntest und mochtest, aufgelöst hat.
Dass Gruppen sich auflösen und wieder neue entstehen, ist Teil der teilweise dynamischen Art anarchistischer Organisation. Gruppen und Räte entstehen und verschwinden, passen sich an Zeiten und Bedürfnissen an, während die Idee, das Netzwerk, die Föderation bleibt. Neue anarchistische Gruppen können und werden wieder gegründet werden. Doch Isolation muss nicht sein.
Isolation ist gleichzeitig Resultat und Nährboden des herrschenden Systems. Isolation zu durchbrechen ist nicht nur Widerstand, sondern kann auch gelebte Solidarität und präfigurativer anarchistischer Strukturaufbau sein.
Bereits 1928 wurde mit im Eindruck des stärker werdenden Faschismus und Bolschewismus zur anarchistischen Synthese aufgerufen. Warum dieser strömungsübergreifende oder synthetische Anarchismus auch fast 100 Jahre später noch ein guter Ansatz ist, beschreibt dieser Text. Nicht nur angesichts wieder stärker werdender autoritärer Strömungen, sondern auch unabhängig davon. Es ist es wichtig, solidarisch zusammenzukommen, die Isolation zu durchbrechen und gemeinsam für herrschaftsfreiere Gesellschaften zu kämpfen.
Unter Föderation verstehen wir Netzwerke von Gruppen und Netzwerke von Netzwerken, die auf der Grundlage der freien Vereinbarung beruhen, in denen es also keinen Zwang zum Bleiben gibt. Zudem sind Föderationen zwingend von unten nach oben organisiert: Föderationen haben also lediglich koordinierende, Strukturen und Unterstützung bereitstellende Funktion, und keine Autorität gegenüber den Föderierten. Die föderierten Gruppen und Netzwerke handeln und entscheiden autonom.
Die Idee der Föderationen, der föderierten Räte und der Netzwerke hat eine lange anarchistische Geschichte und wurde immer wieder befürwortet und in der Praxis umgesetzt. So wurde die Internationale der anarchistischen Föderationen (IFA) beispielsweise 1968 in Carrara gegründet, basiert jedoch auf den Prinzipien der antiautoritären Internationalen von 1872 in Saint-Imier. Und es gibt neben der IFA noch viele andere wie selbstorganisierte bis anarchistische Netzwerke wie beispielsweise Kommuja (ein Netzwerk politischer Kommunen), das Mietshäuser Syndikat (Solidargemeinschaft zum kollektiven Erwerben und Nutzen von Häusern), die War Resisters International (ein globales antimilitaristisches Netzwerk) oder die Internationale Konföderation der Arbeiter*innen (International Confederation of Labor, ICL, ein weltweiter Zusammenschluss anarcho-syndikalistischer Gewerkschaften).
Synthetische Föderation bedeutet die Vielfalt anarchistischer Strömungen als ihre Stärke zu feiern.
In einer synthetischen Föderation können also z.B. anarcha-Feministische, ökoanarchistische, individual-anarchistische, anarcho-kommunistische, mutualistische und syndikalistische Gruppen und Netzwerke zusammenkommen. Nicht immer werden alle Gruppen mit dem einverstanden sein, was die anderen tun, doch das ist weder realistisch noch notwendig.
Synthetische Föderation ist stabil nicht im Sinne von starrer oder vorschreibender Organisation, sondern stabil im Sinne von dem Festhalten an der Idee anarchistischer Vielfalt und präfigurativer Politik. Also der Idee, dass wenn wir eine herrschaftsfreie Welt wollen, dass dann unsere Aktionen und Organisationen diese Ideen schon üben, umsetzen und aufbauen sollten. Stabil auch in dem Sinne, dass die Föderation langfristig bestehen und international vernetzt bleibt, auch wenn einzelne Gruppen innerhalb der Föderation sich auflösen.
Die Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA), die wiederum Teil der International Federation of Anarchists (IFA) ist, ist eine Synthetische Föderation.
Im Gegensatz zu plattformistischer Organisation, die ein gemeinsames Programm und eine gemeinsame Strategie hat, welche für die Mitglieder bindend sind, braucht eine synthetische Föderation nur einen groben anarchistischen Grundkonsens und bietet den föderierten Gruppen mehr Gestaltungsfreiheit.
Eine synthetische Föderation gibt nicht vor, wie eine Gruppe organisiert sein muss, wie oft sie sich zu treffen hat, wie viele Veranstaltungen oder Demonstrationen oder Arbeitskämpfe oder anderes sie zu organisieren hat. All dies können Gruppen selbst entscheiden und dynamisch an ihre Kapazitäten anpassen. So vermeidet sie Polit-Burnout - auch weil Leute sich bei drohendem Burnout auf Föderationsebene mit anderen darüber austauschen und vorsorgende Maßnahmen erdacht werden können.
Eine synthetische Föderation gibt auch nicht vor, ob und wie föderierte Gruppen zu strittigen politischen Themen Stellung beziehen sollten. Auch das steht den Gruppen frei.
Eine synthetische Föderation gibt nicht vor, zu wissen, was die "richtige" Analyse des bestehenden Systems ist, was die "richtige" anarchistische Strömung ist, und was die "richtige" Strategie in eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Wir sehen eher eine Gefahr darin, davon auszugehen, dass es eine "einzige" richtige Lösung gibt. Mithilfe der Organisationsform synthetischer Föderation können wir einander an die Wichtigkeit des vielfältigen Nebeneinanders und der Ablehnung von Dogmas erinnern. Durch die Offenheit für unterschiedliche Theorien und Strategien ist eine verurteilungsfreiere und offenere Diskussion möglich. Auch unsere Diskussionen und Handlungen sollten von herrschaftsförmiger Rechthaberei befreit und so angstfreier, zugänglicher und inspirierender sein.
Da eine synthetische Föderation nur einen groben gemeinsamen anarchistischen Grundkonsens benötigt, ist langwieriges Ringen um Prinzipien auf Föderationsebene minimiert und die Gruppen bleiben autonom. Gleichzeitig heißt das nicht, dass alles akzeptiert wird. Jegliche Form von Herrschaft und Diskriminierung wird abgelehnt. Die Föderation ist eine Art Accountability-Struktur, die Gruppen zu anarchistischem Handeln motivieren und Problematisches ansprechen kann. Dabei sollten Ursachen von problematischem Verhalten erkannt werden, ohne Menschen zu verurteilen, und gleichzeitig Mechanismen entwickelt werden, die solches Verhalten in Zukunft vermeiden.
Solange der Grundkonsens nicht verletzt ist, ist die Föderation nicht für die Aktionen und Inhalte der einzelnen Gruppen verantwortlich. Durch diese inhaltliche Unabhängigkeit wird vermieden, dass sich bedenkliche inhaltliche Positionen auf die ganze Föderation ausbreiten.
Gleichzeitig entstehen durch die föderale Organisation Synergieeffekte wie z.B. Erfahrungsaustausch, gemeinsam nutzbare Strukturen, oder Kooperationen bei größeren Aktionen wie überregionalen Kampagnen. So können Ressourcen wie Büchertische, Awarenesskonzepte, Technikausstattung, Wissen, Zugänge, und Organisationserfahrung von Gruppe zu Gruppe weitergegeben werden, auch wenn Gruppen sich auflösen und neue entstehen. Über Gruppen hinweg, können sich Menschen finden, die für ein Projekt oder ein Thema temporär gemeinsam etwas organisieren wollen. Und auch Menschen, in deren Region es aktuell keine anarchistische Gruppe gibt, können durch den Kontakt zur Föderation die Isolation durchbrechen und bei Gelegenheit neue Gruppen oder Projekte starten.
Durch die Föderation können Inhalte und Ankündigungen weiter verbreitet werden, da die Kommunikationskanäle unterschiedlicher Gruppen auch Inhalte anderer föderierter Gruppen teilen können. Dies fördert die Sichtbarkeit und Wahrnehmung anarchistischer Gruppen und ihrer Vielfalt.
Doch synthetische Föderation ist nicht nur pragmatisch und ressourcenschonend, sondern auch genau das, was wir wollen: eine Struktur wie wir sie uns in anarchistischen Gesellschaften vorstellen. Das Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze, eine Welt der Welten. Dezentrale Organisation mit lokaler Autonomie. Überregionale Strukturen, die keine Herrschaft ausüben, sondern koordinieren, um Synergieeffekte zu bewirken.
Anarchist*innen nennen das auch präfigurative Politik. Die Methoden passen zum Ziel, sie nehmen das Ziel vorweg. Das Ziel ist dabei nicht statisch, sondern entwickelt sich mit der Zeit und den gewonnenen Erfahrungen weiter.
Es geht nicht nur darum, Strukturen aufzubauen bis das System kippt, sondern auch darum selbst Erfahrungen in anarchistischer Organisation zu sammeln und uns die dazu notwendigen Fähigkeiten gemeinsam anzueignen. Klar, kann nicht alles gleich perfekt sein, es gibt Sachzwänge und Frust im jetzigen System und wir werden Fehler machen. Doch Schritt für Schritt werden wir weiter gehen und fragen und lernen.
Für vielfältige und undogmatische Organisationen, die vielfältige und undogmatische Gesellschaften präfigurieren.