Es kann nicht „die“ eine „richtige“ Utopie geben. Utopien sind Anregungen zur Diskussion. Wenn ich meine Meinungen zu Utopien teile, spreche ich nur für mich, nicht für eine (anarchistische) Organisation oder Strömung. Die hier dargestellten Methoden zur Einordnung von Utopien sind auch auf deine Utopien übertragbar.
Ziel ist es nicht, Utopien, die andere entworfen haben, abzuurteilen, sondern kritisch und solidarisch zu analysieren, um in der Diskussion über mögliche Utopien weiterzukommen.
Oft wird der Begriff „Utopie“ verniedlichend als unrealistische Träumerei abgetan. Ich benutze „Utopie“ wie Ernst Bloch als konkrete Utopie, also als real möglicher Gesellschaftsentwurf. Es geht beim Nachdenken über Utopien nicht um Insellösungen, sondern um gesamtgesellschaftliche, ja sogar planetare Entwürfe. Es geht nicht um Wunschträume, sondern um reale Möglichkeiten, die somit auch eine Kritik des Bestehenden sind. Es geht nicht um eine Anleitung oder einen Bauplan, sondern um Entwürfe, die lediglich ein paar Grundsteine festlegen und die damit Anregung zur Diskussion und zum Weiterentwickeln der Utopien sind.
Utopien sind immer vom Zeitgeist geprägt: In unterschiedlichen Epochen gab es Utopien mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten und das wird auch weiter so sein. Eine heute entworfene Utopie kann also nicht den Anspruch haben, in der Zukunft noch aktuell zu sein. Sie ist lediglich ein Anhaltspunkt für unser Handeln in der Gegenwart und wird durch veränderte Zukünfte dann auch verändert neu entworfen.
Eine Utopie ist subjektiv. Die Utopie der einen kann in den Augen der anderen eine Dystopie sein. Das ist jedoch kein Grund, das Nachdenken über Utopien aufzugeben, sondern in Diskussion über verschiedene Utopien zu treten. Auch über eine mögliche Koexistenz unterschiedlicher Gesellschaftsmodelle in der Zukunft kann nachgedacht werden.
Ist es wirklich sinnvoll, über Utopien nachzudenken? Haben wir angesichts des Klimaumbruchs noch Zeit, uns mit Utopien zu befassen? Oder sollten wir uns voll auf Klimaaktivismus stürzen?
Wie ihr euch vermutlich denken könnt, ist meine Antwort auf diese Frage ja, wir sollten uns egal in welcher Krise die Zeit nehmen, über Utopien zu diskutieren. Das Ziel dieser Diskussion ist es, eine transformatorische Perspektive zu entwickeln. Ohne diese Perspektive fehlt die Richtung, in die der Aktivismus geht, und ohne Richtung besteht die Gefahr autoritärer Systeme. Autoritäre Gedanken können auch in „emanzipatorischen“ Strömungen vorkommen, wenn die Grundsätze nicht kritisch durchdacht und reflektiert werden. So sollten wir z.B. aufpassen, dass sich in den Umweltbewegungen kein rassistisches Gedankengut breit macht. Während des Klimaumbruchs in einem autoritären System zu leben würde bedeuten, dass die immer knapper werdenden Ressourcen unter Einschränkung von Freiheiten an immer weniger Leute verteilt würden.
Wir brauchen Utopiediskussion
Keine Utopiediskussion ist auch keine Lösung, denn in Umbruchsituationen kann sonst ein Ideen- und Machtvakuum entstehen und dies können autoritäre Kräfte nutzen, die Macht an sich zu reißen.
Zunächst ein paar Fehler, die es meiner Meinung nach beim Entwerfen von Utopien zu vermeiden gilt.
Zeitdruckfalle: In Zeiten von Krisen – insbesondere des Klimaumbruchs – erscheint es oft naheliegend, schnell handeln zu müssen, schnell eine andere Gesellschaft herbeiführen zu müssen. In solchen Zeitdrucksituationen, besteht die Gefahr, dass autoritäres Denken Zwang, Gewalt, und Exklusionslogik rechtfertigen, um mehr Einfluss zu erlangen. Wir sollten sehr vorsichtig dabei sein, autoritäre Regime als notwendige Übergangslösung zu akzeptieren. Das ist schon öfter schiefgegangen.
Dogmatismusfalle: Hast du auf einer linken Demo schon mal den Slogan „One Solution – Revolution“ gehört? Das klingt zwar melodisch antreibend, reproduziert jedoch die dogmatische Idee, dass nur ein bestimmter Weg der richtige sei und dass es keine Alternative gäbe. Wollten wir nicht die konservative TINA (there is no alternative) mit TATA (there are thousands of alternatives) überwinden? Jedenfalls sollten utopische Entwürfe darauf achten, dass sie sich nicht selbst als den einzig richtigen Weg darstellen.
Bilderverbotsfalle: In Teilen der marxistischen Linken versteht man unter dem Bilderverbot das Verbot, Post-Revolutionäre Zustände genauer zu beschreiben. Die Idee ist, dass die neue Gesellschaft spontan in der Revolution entstünde. Einige Autor*innen wie Bini Adamczak oder die Freund*innen der klassenlosen Gesellschaft lehnen das Bilderverbot mittlerweile ab oder beschränken es auf zu detailreiches zu Auspinseln.
Anleitungsfalle: Eine bis ins Detail gehende Beschreibung einer anderen Gesellschaft hat den Vorteil, besser vorstellbar zu sein. Sie läuft jedoch Gefahr, wie ein Bauplan oder eine Anleitung rüber zu kommen und damit dogmatisch zu sein. Ausmalende Beschreibungen sind in Science-Fiction Form bereichernd. In diesem Medium ist klar, dass es ein Gedankenexperiment für die Fantasie ist. Wenn wir jedoch konkrete Utopien mit dem Ziel eine Anregung zur Transformation der Gesellschaft zu sein verfassen, kann ein zu detailgetreues Beschreiben dem notwendigen Diskussions- und Reflexionsprozess im Weg stehen.
Angstfalle: In einer Diskussionsgruppe zu Utopien hatten wir uns das Ziel gesetzt, dass jede Person auf einer DIN A4 Seite ihre Utopie beschreibt. Wir haben bei uns selbst Widerstände gegen das Festschreiben beobachtet. Die eigenen utopischen Vorstellungen werden so festgenagelt. Sie niederzuschreiben, macht angreifbar und setzt sie der Kritik aus. Trotz der inneren Widerstände ist es für den Diskussionsprozess zu Utopien wichtig, den aktuellen Stand der utopischen Überlegungen temporär festzuhalten, um sich konstruktiv und solidarisch austauschen und kritisieren zu können. So können Utopien sich weiter entwickeln.
Gewaltfalle: Verwandt mit der Zeitdruckfalle ist die Gewaltfalle. Sie birgt die Gefahr, durch „nur temporäre“ autoritäre Maßnahmen, ein autoritäres Regime zu installieren. (Zu den Gefahren von Militarismus, siehe auch Antimilitarismus (engl.)). Viele Anarchist*innen sagen, dass das Ziel in den Mitteln anwesend sein muss, dass also eine gewaltarme Gesellschaft nicht durch gewaltvolle Mittel herbeigeführt werden kann. Andererseits besteht im Zusammenhang mit der Gewaltfrage (wann ist welche Form von Gewalt gerechtfertigt) die Gefahr der Spaltung emanzipatorischer Strömungen. Wie auch bei vielen anderen Themen, kann durch die Frage „ist ein Nebeneinander verschiedener Ansätze praktikabel?“ diskutiert werden, was möglich ist.
Elfenbeinturmfalle: Werden Utopien lediglich in wissenschaftlichen Publikationen (die nur gegen hohe Gebühren erhältlich sind) oder in dicken, teuren Büchern veröffentlicht, für die es keine kostenlose PDF-Version gibt, dann ist der Zugang zu den Utopien und damit die Möglichkeit zu breiter Diskussion darüber eingeschränkt. Auch komplexe Sprache kann den Zugang erschweren. Das Nicht-Zitieren von Quellen, die von außerhalb der eigenen Wissenschafts- oder Polit-Bubble stammen, ist eine weitere Falle, die zur Begrenzung der Utopiediskussion führt.
Frustrationsfalle: Wer versucht, Teile der Utopie schon im Jetzt auszuprobieren (präfigurative Politik oder einfach nur Erfahrungen sammeln), könnte früher oder später frustriert aufgeben. Es ist schwer, innerhalb der Logik des Kapitalismus andere Formen des Wirtschaftens zu etablieren. Und es ist schwer, mit einer Sozialisation im alten System, sich emanzipatorische Verhaltensweisen anzueignen. Lasst uns trotzdem nicht aufgeben.
Komplexitäts- und Plausibilitätsfalle: Die Welt ist heute viel vernetzter und komplexer als zu Thomas Morus’ Zeiten. Und hoffentlich willst du nicht ins Mittelalter zurück. Daher müssen aktuelle Utopien der Komplexität heutiger und zukünftiger Gesellschaften gerecht werden. Andererseits kann der Versuch, Komplexität zu beschreiben, abschreckend und unrealisierbar klingen. Wir brauchen also Utopien, die mit Komplexität gut umgehen können und dabei plausibel bleiben.
Das Meme des „fully automated luxury gay space communism“ macht augenzwinkernd auf diese Lücke aufmerksam, die zwischen der notwendigen Komplexität guter utopischer Entwürfe und der Plausibilität der Realisierbarkeit entsteht und die es zu schließen gilt.
Im Folgenden empfehle ich vier Schritte zur Entwicklung von Utopien, die unabhängig von der inhaltlichen oder politischen Ausrichtung anwendbar sind.
Da eine Utopie nicht statisch sein kann und sich weiter entwickeln muss, sollten diese Schritte spiralförmig immer wieder durchlaufen werden. D.h. nachdem einige Zeit vergangen ist, die Gegenwart weiter in die Zukunft gerückt ist und neue Erfahrungen gesammelt wurden, werden die bisherigen Gedanken zu den vier Schritten überprüft, angepasst und weiterentwickelt. Durch dieses sich wiederholende Vorgehen verschwindet auch das Henne-Ei-Problem von der Bedingtheit von Utopie und Transformation.
Strukturelle Kritik: Strukturelle Kritik bedeutet nicht nur beispielsweise die gestiegenen Lebensmittelkosten, das Waldsterben oder die Diskriminierung von chronisch Kranken zu kritisieren, sondern zu überlegen, welche Strukturen hinter diesen Problemen stehen und dann diese Strukturen zu kritisieren. Hinter vielen Problemen steckt Rentabilitätsdenken, Ausbeutung von Ressourcen und Konkurrenzdruck – also letztlich Marktlogik und Kapitalismus. Auch Kolonialismus, struktureller Rassismus, Patriarchat und viele andere Diskriminierungsformen können konkret benannt und kritisiert werden.
Menschenbild: Um eine angestrebte Utopie verstehen zu können, ist es oft sinnvoll, zunächst zu erklären, auf welchem Menschenbild diese beruht. Geht die Utopie beispielsweise davon aus, dass alle Menschen grundsätzlich gut oder grundsätzlich böse sind? Geht sie davon aus, dass jeder Mensch für ihre*seine eigenen Interessen eintreten möchte und kann? Geht sie von gesunden, arbeitsfähigen (meist cis-männlich vorgestellten) „Normmenschen“ aus? Geht sie davon aus, dass Menschen durch Belohnunungen motiviert werden müssen?
Utopie: Im Sinne einer konkret realisierbaren Utopie wird nun nicht bis ins Detail gehend, aber doch grundlegend beschrieben, wie eine zukünftige Gesellschaft aussehen könnte. Diese Gesellschaft sollte die im ersten Schritt kritisierten Strukturen überwinden und durch bessere ersetzen. Sie sollte außerdem dem im zweiten Schritt beschriebenen Menschenbild gerecht werden.
Transformation: Nachdem klar ist, welche Utopie angestrebt wird, wird im vierten Schritt beschrieben, wie Wege zu dieser Utopie aussehen könnten. Diese beschriebenen Wege können auch dazu dienen, langfristige und kurzfristige Ziele sowie konkrete Aktionen der eigenen Polit-Tätigkeit zu inspirieren. Erfahrungen aus der Polit-Praxis helfen später, die Utopie im nächsten vier-Schritte Zyklus anzupassen.
So kann nach einer gewissen Zeit mit neuen Erkenntnissen die strukturelle Kritik, das Menschenbild, die Utopie und die Transformation wieder überdacht und angepasst werden. Die Schritte zur Utopie verlaufen also – in diesem gedanklichen Modell – spiralweise: Alle vier Aspekte werden immer wieder bedacht, trotzdem gibt es (neben Rückschlägen in der Praxis) eine Weiterentwicklung.
Dieses schrittweise Vorgehen ist inspiriert durch das Buch Kapitalismus aufheben von Sutterlütti und Meretz.
Utopien sind wieder im Trend. An vielen Orten werden uns Utopien, Visionen oder Alternativen angeboten. Doch wie können wir in diesem Utopie-Gewirr noch den Durchblick bewahren und diskussionswürdige und anstrebenswerte Utopien identifizieren? Und wie können wir die eigenen utopischen Gedanken einem Check unterziehen?
Während der obige vier-Schritte-Prozess auf unterschiedlichste Utopien angewandt werden könnte, ist dieser Check zugegebenermaßen nicht neutral. Er ist von meinem Politikverständnis beeinflusst. Eine Methode der Diskussion über mögliche Utopien könnte es also sein, die Kriterien, die zur Bewertung von Utopien herangezogen werden, zu vergleichen. Was ist dir wichtig, wenn dir eine Utopie begegnet? Hier sind die Kriterien, die ich ansetze, der Utopie-Check:
Freiheit: Ermöglicht die Utopie jedem Menschen Freiheit, solange sie nicht die Freiheit anderer Menschen einschränkt? Freiheit bedeutet die Abwesenheit von Zwang, Unterdrückung und Diskriminierung. Freiheit ist die Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse erfüllen zu können, d.h. sich entfalten und ein gutes Leben leben zu können. Einige Utopien stellen die Freiheit des Individuums weit über alles andere. Dies ist zum Beispiel beim Freiheitsverständnis der FDP (Partei in Deutschland) oder der liberterians („anarchokapitalistische“ Strömung in den USA) der Fall.
Solidarität: Solidarität bedeutet, die eigenen Bedürfnisse nicht über die von anderen (zukünftige Generationen eingeschlossen) zu stellen. Freiheit ohne Solidarität resultiert in Privilegien und Ungerechtigkeit. Freiheit ohne Solidarität schränkt die Freiheit von ausgegrenzten Gruppen oder Personen ein. Deshalb müssen Freiheit und Solidarität im Gleichgewicht sein, wenn es um die Freiheit aller geht.
Sorge: Annette Schlemm schreibt im Utopischen Klo „Jede Utopie muss sich daran messen lassen, wie in ihr das Problem des Klo-Putzens gelöst wird“. Der Care-Bereich (auch Sorgearbeit genannt, also Tätigkeiten rund um „Reproduktion“ wie Kinderbetreuung, Altenpflege oder Reinigung) wird bei einigen Utopien einfach ausgespart. Wenn es nur um die Produktion von zählbaren Einheiten (z.B. Tonnen Stahl) geht oder davon ausgegangen wird, dass unbeliebte Tätigkeiten schon irgendwie erledigt werden würden, dann liegt der Verdacht nahe, dass der Care-Bereich nicht mitgedacht wurde. Wird implizit davon ausgegangen, dass FLINTA* das weiterhin weitgehend unsichtbar nebenbei erledigen? Unabhängig von feministischen Motivationen, muss jede Utopie die Frage nach der Verteilung unbeliebter Tätigkeiten ohne Zwang beantworten, wenn sie die Freiheits- und Solidaritäts-Checks bestehen will.
Krise: Ein Härtetest für Utopien ist die Frage, ob sie auch in Krisen funktionieren. Als Gedankenexperiment können Klimakatastrophen und gewaltvolle Machtübernahmen autoritärer Regime durchgespielt werden. In Krisen hat sich oft gezeigt, dass das kapitalistische System auf lokaler Ebene versagt und auf nationaler oder globaler Ebene durch massive Eingriffe von Staaten gerettet werden muss. Trotz alledem passt sich der Kapitalismus immer wieder an veränderte Bedingungen an und wird von vielen als beste Option – auch in Krisenzeiten – gesehen. Die zu prüfende Utopie muss sich also die Frage gefallen lassen, ob sie selbst in Krisenzeiten die bessere Option wäre. Auch zu diesem Thema hat Annette Schlemm einen guten Text geschrieben: Schönwetter-Utopien im Crashtest (PDF)
Kein Dogma: Der letzte Check ist die Frage, ob die zu prüfende Utopie Vielfalt zulässt und auf Inklusion der Vielfältigkeiten setzt oder dogmatische Setzungen enthält, die bestimmte Gruppen ausschließen. Vielfalt bezieht sich auf Lebensentwürfe, Vorlieben, Weltanschauungen, Herkünfte. Dogmatische Setzungen müssen nicht unbedingt explizit sein. Sie können auch aus nicht genannten und nicht hinterfragten Annahmen bestehen. Ein Beispiel dafür ist die Hinnahme der Ungleichverteilung zwischen globalem Norden und Süden, ohne die auf Kolonialismus beruhende Geschichte zu betrachten. „Kein Dogma“ bedeutet jedoch nicht, dass jegliche Weltanschauung vollständig zu akzeptieren ist. Wenn sie die Freiheit anderer einschränkt und damit selbst zum Dogma wird, braucht es eine Grenze. Oder um es mit Tim Minchen zu sagen: „If you open your mind too much your brain will fall out“.
Anhand von drei Beispielen will ich zeigen, wie der Utopie-Check angewandt werden kann.
Unter Sozial-ökologischer Marktwirtschaft verstehe ich ein System, das dem jetzigen grob ähnelt. Es gäbe weiterhin alle vier Jahre Wahlen, eine Regierung, die Gesetze erlässt und sonst keine Mitbestimmung. Es gäbe weiterhin Lohnarbeit und Marktwirtschaft, Konkurrenzdenken und Ungleichverteilung von Eigentum. Trotzdem gäbe es einen großen gesellschaftlichen Konsens zur Wichtigkeit von Ökologie und sozialer Gerechtigkeit, sodass diese Themen im Fokus der Regierungen sind. Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob es sozial-ökologische Marktwirtschaft überhaupt geben kann, also ob die strukturelle Maßlosigkeit des Kapitalismus so eingeschränkt werden kann, dass sie sozial und ökologisch wird, ohne gleichzeitig in Wirtschaftskrisen in sich zusammenzubrechen. Doch nehmen wir mal an, es könnte funktionieren.
❌ Freiheit: Zwar gibt es viele Gesetzte, die Freiheiten sichern sollen, doch letztlich ist das Individuum durch die Gesetze der Regierungen und durch die Marktlogik eingeschränkt, da es die Gesetze kaum mitgestalten kann. Die Mitbestimmungsmöglichkeiten beschränken sich auf Wahlen, die nicht viel Veränderung bewirken. Zudem besitzt der Staat das Gewaltmonopol und kann so Freiheiten einschränken.
❌ Solidarität: Die Regierungen streben zwar soziale Gerechtigkeit an, jedoch gibt es – bedingt durch die Marktlogik und das Konkurrenzdenken – immer noch große Lohngefälle sowie ungleiche Eigentumsverteilung. Da auch das Konzept Nation nicht aufgehoben ist, gibt es keine angestrebte Gerechtigkeit außerhalb der nationalen Grenzen.
❌ Sorge: Da Care-Tätigkeiten weiter der Marktlogik unterworfen sind, funktioniert Sorge nur schlecht. Sich nach Rentabilitätslogik um Menschen zu kümmern führt zu Selbstausbeutung und Burnout oder dazu, dass die Menschen, die Sorge benötigen, unmenschlich behandelt werden.
❌ Krise: Wir wissen, dass Marktwirtschaft krisenanfällig ist. Ob internationale Wirtschaftskrise, Pandemie oder Krieg. Lieferketten geraten durcheinander, Grundnahrungsmittel verteuern sich und werden (zumindest in anderen Ländern) knapp und Konzerne geraten in Zahlungsnöte. Gerettet wird die „freie“ Marktwirtschaft dann durch das eigentlich in wirtschaftsliberalen Kreisen verpönte Eingreifen des Staates. Wenn eine Nation sich mit Gegenmaßnahmen ganz gut gegen eine Krise schützen kann, so meist auf Kosten anderer Nationen, also durch Ausgrenzungslogik. Wenn Deutschland z.B. Gasknappheit durch den Kauf von Gas aus anderen Quellen ausgleichen kann, treibt das die Gaspreise – vor allem in ärmeren Ländern in die Höhe.
❌ Kein Dogma: Leistungsdenken ist weiterhin ein zentrales Dogma.
Testen wir als Nächstes eine Utopie mit zentraler Planwirtschaft und Arbeitszeitkonto.
❌ Freiheit: Zentrale Planwirtschaft ist ein starres System. Eine zentrale Bürokratie legt einen Plan fest. Damit wird bestimmt, was produziert wird, welche Bedürfnisse erfüllt werden und welche nicht.
❌ Solidarität: Der Anspruch eines solchen Systems ist der gleichberechtigte Zugang aller. Da Privateigentum weitgehend aufgehoben ist, könnte dies möglich sein. Jedoch tendiert eine zentrale Bürokratie zu Vetternwirtschaft und dem Aufbau einer neuen Elite. Zudem bleibt mit den Arbeitszeitkonten das ableistische Leistungsprinzip erhalten.
❌ Sorge: Care-Tätigkeiten sind schwer in Stunden planbar. Deshalb könnten sie in einer Planwirtschaft nicht ausreichend oder auf zu mechanisierte Berücksichtigung finden.
✅/❌ Krise: Falls mit modernen, schnell anpassbaren Plänen gearbeitet wird, kann eine Planwirtschaft sich gut an ändernde krisenhafte Bedingungen anpassen. Zentrale Systeme tendieren jedoch im Krisenmodus dazu, immer mehr Ungerechtigkeiten, Zwang und Gewalt „vorübergehend“ zu rechtfertigen.
❌ Kein Dogma: Potenziell dogmatisch. Um Rückhalt für einen zentralen Plan zu etablieren, wird das System auf Dauer mediale Propaganda und Zwang benötigen.
Commonismus beschreibt eine kommunistische Gesellschaftsform auf Basis der Idee der Commons. Commons bezeichnet dabei nicht nur Gemeingüter wie eine gemeinschaftlich genutzte Weide oder ein gemeinschaftlich erstelltes Gut wie Wikipedia, sondern auch selbstorganisierte Produktionsgemeinschaften, die in anderen politischen Strömungen als Kollektive bezeichnet werden. Mehr dazu findet ihr in dem oben erwähnten Buch Kapitalismus aufheben. Zentrale Ideen sind dezentrale Selbstorganisation in Commons, freiwillige Kooperation und Inklusion.
✅ Freiheit: Jede Person kann frei entscheiden, in welchen Commons sie tätig ist und Commons können frei entscheiden, wie und was sie produzieren und mit wem sie kooperieren.
❌ Solidarität: Zwar betont die Idee, dass Inklusion nahegelegt sei, da jedoch alles auf individueller Freiwilligkeit beruht, gibt es keine Strukturen, die das sicherstellen. Kooperativen könnten nach persönlichen Vorlieben entscheiden, mit dem sie kooperieren, was besonders bei knappen Ressourcen kritisch ist und das Potenzial hat, sich zur Herrschaftsstruktur zu entwickeln. Menschen oder Gruppen, die ausgegrenzt oder benachteiligt werden, müssen dies als Konflikt artikulieren und so für ihre Bedürfnisse kämpfen.
❌ Sorge: Die Autoren gehen davon aus, dass schon genügend Leute Lust auf wenig beliebte Care-Tätigkeiten haben werden und dass diese Tätigkeiten auch angenehmer gestaltet werden könnten. Ob das wirklich so sein wird, oder ob auf Grund der Freiwilligkeit wichtige und dringende Care-Tätigkeiten liegen bleiben oder an denen hängen bleiben werden, die unter der nicht-Erfüllung am meisten leiden (nicht solidarisch), ist fraglich.
❌ Krise: Es gibt Ideen zu Koordinationscommons, die z.B. Konzepte zur Gegensteuerung der Klimakrise entwickeln. Wie diese Konzepte jedoch in knapper Zeit umgesetzt werden könnten, ist unklar, da das Grundkonzept die Gestaltungsfreiheit der Commons ist.
✅/❌ Kein Dogma: Da Freiheit und dezentrale Organisation im Mittelpunkt stehen, ist Vielfalt möglich. Andererseits, ist die Idee, dass Freiwilligkeit und Kooperationsfreiheit (Kooperativen entscheiden, mit wem sie kooperieren) automatisch zu Inklusion und solidarischem Verhalten führen, ähnlich wie die marktliberale Idee, dass der Markt alles regeln würde, dogmatisch.
Es gibt viele Misskonzeptionen darüber, was Anarchismus ist und was Anarchist*innen wollen. Die öffentlichen Medien setzen Anarchie oft mit Chaos und Gewalt gleich. Auch Marxist*innen benutzen „anarchistisch“ als gleichbedeutend mit willkürlich („die Anarchie des Marktes“). Das ist alles falsch und es bleibt offen, was davon Unwissen und was Verleumdung ist.
Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft – eine Balance zwischen Freiheit und Solidarität. Die Freiheit der Einzelnen ist durch die Freiheit der anderen begrenzt und gleichzeitig garantiert. Die Bedürfnisse aller sind wichtig, unabhängig davon, welche „Leistung“ sie beitragen. Entscheidungen werden von denen getroffen, die vom Ergebnis der Entscheidung betroffen sind. Dazu gibt es sowohl lokale als auch regionale und planetare Strukturen, wobei der Schwerpunkt auf der Dezentralität liegt.
Unter „Ordnung“ verstehe ich hier nichts Statisches, sondern eine Sammlung von gegenseitigen Zusagen und Plänen, die auch für die Zukunft einen Rahmen von Planbarkeit und Sicherheit gibt, innerhalb dessen jedoch Bewegungsfreirum ist. Mit „Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft“ möchte ich klarmachen, dass Anarchie weder Chaos noch Beliebigkeit ist. Anarchie kann über lokale Strukturen hinaus organisierte Gesellschaften ermöglichen.
Es gibt nicht „den Anarchismus“, sondern eine Vielfalt anarchistischer Ideen und Strömungen – auch solche, die sich selbst als anarchistisch bezeichnen, jedoch nicht den Mindestanforderungen an Freiheit und Solidarität gerecht werden, wie z.B. der sogenannte „Anarchokapitalismus“. Wegen der Vielfalt unterschiedlicher Strömungen ist das obige Bild irreführend. Es gibt keine einheitliche Idee von dem, was Anarchist*innen wollen. Nur wenige Anarchist*innen wollen selbstversorgend auf Landkommunen leben – auch wenn dieses Bild anarchistischen Bestrebungen schon näher kommt als das des Bombenwerfers. Auf die unterschiedlichen Strömungen und die Akzeptanz dieser Vielfältigkeit gehe ich weiter unten nochmal ein.
Da ich in einem kleinen Dorf groß geworden bin, bin ich erst spät mit über bürgerliche Parteien hinausgehenden politischen Ideen in Kontakt gekommen. Für eine Abiturprüfung habe ich mich näher mit der Oktoberrevolution 1917 in Russland beschäftigt. So habe ich mehr über Kommunismus erfahren und konnte mich für einige Ideen begeistern. Nach einigem Lesen bin ich dann jedoch auch über Anarchist*innen gestolpert. Deren Redefreiheit wurde ab 1917 mehr und mehr eingeschränkt, sie wurden gefangen genommen und niedergemetzelt. Das hat mein Interesse geweckt. Was genau kritisierten die Anarchist*innen am kommunistischen Regime (sie sahen schon früh die sich zur Diktatur ausweitende Gefahr der Herrschaft voraus), welche Ideen vertraten sie und warum hatten die herrschenden Kommunist*innen ein Problem mit den Anarchist*innen?
Seit dem sehe ich jede Art von Herrschaft sehr skeptisch und betrachte die Unterdrückung von Minderheiten als ein Warnsignal. Und darum bestehe ich darauf, mich als Anarchistin und nicht als Kommunistin bezeichnen – die Betonung der Herrschaftsfreiheit soll schon im Namen festgehalten werden.
Ich kann mit einer Kombination aus anarchafeministischen und anarchokommunistischen Strömungen am meisten anfangen. Diese erfüllen meiner Meinung nach den Utopie-Check am besten. Doch dazu gleich mehr.
Nun wende ich die vier Schritte zur Entwicklung einer Utopie am Beispiel einer anarchokommunistischen Utopie an:
1. Strukturelle Kritik: Aus anarchistischer Perspektive werden alle Strukturen, denen Herrschaft, Ausbeutung oder Ausgrenzung innewohnt, kritisiert. Rassismus und Patriarchat sind Beispiele dafür, wie Herrschaftsstrukturen sich über viele Jahrhunderte so verfestigt haben, dass sie tief in unser Denken und auch in staatliche und gesellschaftliche Strukturen verankert sind. Mehr zu den vielfältigen Weisen, in denen Rassismus herrschaftsförmig wirkt, findest du hier.
Kapitalismus ist eine Herrschaftsstruktur, die sich auf den staatlichen Schutz von Eigentum stützt, und auf Leistungs- und Wettbewerbsprinzipien beruht. Kapitalismus verursacht soziale Ungleichheit, Armut und die Klimakrise und ist damit nicht nur als Herrschaftsstruktur, sondern auch als unsolidarisch abzulehnen.
10 Kritikpunkte am bestehenden System sind in diesem Text beschrieben.
2. Menschenbild: Kropotkin hatte ein eher positives Menschenbild und ging davon aus, dass Menschen – bei geeigneter Sozialisation – dazu tendieren einander zu helfen. Moderne anarchistische Ansätze wie der des Postanarchismus gehen weder davon aus, dass der Mensch im Grunde gut ist noch davon, dass er schlecht ist. Statt Binarität gibt es Vielfalt und Diversität. Genauso wenig wie es eine Definition vom guten Menschen gibt, gibt es eine Definition, was gutes Leben ist. Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse, Wünsche und Träume.
Egal ob aus essenziellem „Gut sein“, Sozialisation, Lernfähigkeit oder utilitaristischem Abwägen: wenn du kein einsames Selbstversorger*innendasein anstrebst, sind Menschen aufeinander angewiesen und es geht darum, dieses aufeinander angewiesen sein möglichst so zu gestalten, dass es allen Menschen möglichst gut geht.
Ein zentraler Aspekt im anarchistischen Menschenbild ist das der Freiheit. Daran, wie Freiheit hier verstanden wird, lässt sich der anarchistische Ansatz gut von anderen abgrenzen. Denn Freiheit bedeutet hier die Freiheit der Menschen – nicht die der Wirtschaft – und meine Freiheit endet dort, wo sie die Freiheit anderer einschränkt.
Freiheit bedeutet nicht nur mich zu entfalten und mir für meine Belange Gehör verschaffen zu können. Freiheit bedeutet auch keine Angst haben zu müssen, ob meine Bedürfnisse morgen erfüllt werden (selbst wenn ich mir kein Gehör verschaffen konnte).
3. Utopie: Für eine anarchistische Utopie, die die oben kritisierten strukturellen Probleme überwindet, ist neben der bereits erwähnten Balance aus Freiheit und Solidarität Dezentralität, Nachhaltigkeit und – meiner Meinung nach – weitgehende Gewaltfreiheit wichtig. Die Utopie braucht eine Wirtschaftsweise, die nicht auf Eigentum, Konkurrenz und Tauschlogik, sondern auf bestmöglicher Erfüllung von Bedürfnissen bei nachhaltigem Nutzen von Ressourcen beruht. Wie eine solche Wirtschaftsweise, Produktion und Distribution (Verteilung) aussehen kann, beschreibe ich weiter unten genauer.
4. Transformation: Die meisten anarchistischen Strömungen betonen, dass das Ziel, also die Utopie, in den Mitteln zur Erreichung des Ziels bereits vorhanden sein muss. Dass also eine herrschaftsarme Gesellschaft nicht mit Herrschaft zu erreichen ist. Dass eine solidarische Gemeinschaft nicht durch Ausgrenzung und Ausbeutung zu erreichen ist. Es gilt daher Strukturen aufzubauen, die teilweise schon utopischen Charakter haben, in denen die Utopie im Kleinen schon ausprobiert werden kann. Auch zur Transformation schreibe ich weiter unten noch mehr.
Nach einiger Zeit des Ausprobierens dieser Utopie in der Praxis und des solidarischen Kritisierens und Diskutierens mit anderen können die vier Schritte erneut durchlaufen werden und die Utopie so weiterentwickelt und an neue Erkenntnisse und Zukünfte angepasst werden.
Wie bereits geschrieben, fallen unter das Spektrum anarchistischer Strömungen eine Vielzahl von sich teilweise widersprechenden Ideen, die jedoch nebeneinander existieren könnten. Um mit der Beschreibung der Utopie etwas konkreter werden zu können, werden hier die Grundrisse des Anarchokommunismus oder Kommunistischen Anarchismus beschrieben.
Zunächst die Definition von Wikipedia: Der kommunistische Anarchismus (auch Anarchokommunismus, Anarchistischer Kommunismus, freiheitlicher Kommunismus oder libertärer Kommunismus genannt) ist ein politisches Konzept des Anarchismus, dem zufolge der Staat und der Kapitalismus überwunden werden und durch Netzwerke von freiwilligen Vereinigungen, Arbeiterräten und gemeinschaftlichen Kommunen ersetzt werden sollen.
Konkret bedeutet dies
In älteren Publikationen zu Anarchokommunismus (und auch zum Rätekommunismus) taucht die Vorstellung von vielen Föderationsverschachtelungsebenen auf. Diese scheinen bei einer Organisation von unten nach oben und möglichst dezentralen Entscheidungen nötig. Konkret soll dies in Verbindung mit dem imperativen Mandat funktionieren. D.h. eine lokale Ebene entsendet eine Person mit einem konkreten Handlungsauftrag in eine Versammlung auf höherer Ebene. Handelt die Person entgegen diesem Auftrag, kann sie sofort zurückberufen werden.
Das folgende Bild veranschaulicht diese traditionellen Verschachtelungsebenen von lokaler, über regionaler, bis zu kontinentaler und planetarer Ebene.
Dieses Verfahren wird häufig als zeitintensiv und träge kritisiert. Auch kann Konfliktklärung auf überregionaler Ebene zwischen mehreren Menschen mit konkretem Handlungsauftrag schwierig werden, da sie nicht die eigenen Interessen vertreten und sich bei alternativen Kompromissideen erst auf lokaler Ebene rückversichern müssen.
Dank Vernetzung über Internet können Vernetzungsebenen und notwendige Treffen auf diesen Ebenen jedoch reduziert werden. Außerdem verbessert sich so die Transparenz und die Geschwindigkeit bei dringenden Entscheidungen.
Da diese Strukturen zur Entscheidungsfindung aus heutiger Sicht komplex klingen, habe ich sie in diesem Text an einem praxisnahen Beispiel auf lokaler Ebene veranschaulicht.
Das Grundmuster sieht so aus:
Dieses Muster wiederholt sich auf unterschiedlichen Lokalitäts-Ebenen und in unterschiedlichen Zeiträumen: - z.B. über frische Backwaren und Kinderbegleitung kann sehr lokal und kurzfristig dynamisch anpassbar entschieden werden - z.B. über Klimawandel relevante Ressourcen und Schadstoffausstoß muss auf planetarer Ebene und weit in die Zukunft schauend, zukünftige Generation mitdenkend, entschieden werden. Diese Entscheidungen können an aktuelle Entwicklungen angepasst werden, sollten aber trotzdem als langfristig bindend angesehen werden.
Verschiedene technische Hilfsmittel für Informationssammlung, Entscheidungsfindung, Verbrauchsprognosen und Simulation der Auswirkung von Entscheidungen können diese Prozesse unterstützen. Dabei ist es wichtig, dass es für eindeutig zeitkritische Entscheidungsfragen Prozesse zur schnellen Entscheidungsfindung gibt, die jedoch gegen Machtmissbrauch abgesichert sind. Beispielsweise könnte durch eine schnelle digitale Abstimmung, für die eine 90% Mehrheit erforderlich ist, festgestellt werden, dass Dringlichkeit erforderlich ist und durch eine weitere Abstimmung dieser Art entschieden werden, welches Gremium von Expert*innen die Entscheidung treffen darf. Diese Entscheidung müsste dann nochmal durch eine sehr große Mehrheit bestätigt werden.
Planwirtschaft ist und aus historischen Beispielen als starres (5-Jahres-Plan), an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigehendes, von Herrschern diktiertes Produzieren in unserer Erinnerung. Das ist nicht, was hier vorgeschlagen wird. Produktion zu planen, ist an sich nicht negativ. Es ist eine Möglichkeit, sicher Bedürfnisse zu erfüllen. Wichtige Anforderungen an die Art der Planung sind jedoch, dass sie möglichst dezentral sein muss und alle Betroffenen mitentscheiden können müssen. Sie sollte mehrere Lokalitätsebenen unterstützen und immer nur einen Vorschlagscharakter haben – die Entscheidung wird von den Betroffenen getroffen, nicht von Maschinen und auch nicht von Komitees. Außerdem sollte die Planung möglichst flexibel auf sich ändernde Umstände und Bedürfnisse anpassbar sein können. Die Starrheit der Planwirtschaft in der Sowjetunion hatte auch mit noch nicht zur Verfügung stehender Rechenleistung zu tun. Heute können Planungsoptionen viel schneller und damit dynamischer ermittelt werden.
Durch die Dezentralität zwingt die Planung keine Werte oder „echten“ Bedürfnisse auf. Sie kann an lokale, kulturelle oder szenespezifische Unterschiede angepasst werden: So möchte ein Verbraucher*innenrat beispielsweise komplett auf Autos verzichten und dafür mehr aufwändig herzustellende Lebensmittel verbrauchen, ohne über den ihnen bei solidarischer Verteilung zustehenden Anteil an knappen Ressourcen hinauszugehen. Ein anderer Verbraucher*innenrat könnte entscheiden, möglichst autark zu leben und sich nur minimal in die dezentrale Planwirtschaft einzubringen (was vollkommen akzeptabel ist, solange nicht unsolidarisch viele knappe Ressourcen wie beispielsweise Ackerland verbraucht werden). Wiederum ein anderer Verbraucher*innenrat könnte darauf bestehen, dass Sorgearbeit (teilweise) nicht planbar ist und diese unabhängig der lokalen Planung weiterhin in familiären Strukturen selbst zu organisieren.
Was ist genau der Unterschied zum Commonismus, der im Utopie-Check oben nur 1,5 Punkte bekommen hat, obwohl er dem Kommunistischen Anarchismus in vielen Punkten ähnelt? Der wesentliche Unterschied ist, dass im Commonismus die Commons entscheiden, was und wie produziert wird und wohin verteilt wird. Im Kommunistischen Anarchismus dagegen gibt es dezentrale Planung mit Beteiligung aller Betroffenen. Dadurch entsteht mehr Klarheit und Planungssicherheit für das, was angestrebt wird. So kann entgegenlaufendes Verhalten identifiziert und skandalisiert werden. Commons oder Kollektive haben damit eine geringere Chance, schräges Verhalten zu rechtfertigen. Im Kommunistischen Anarchismus gibt es keine Machtanhäufung bei Leuten, die in einem wichtigen Infrastrukturcommons, wie einem Wasserwerk, tätig sind, da alle Betroffenen, also in dem Fall alle, die an das Werk angeschlossen sind, bei wichtigen Entscheidungen Einfluss nehmen können.
Der Unterschied mag klein erscheinen, jedoch steckt ein anderes mentales Modell dahinter: Beim Commonismus ist es die Freiheit als Common autonom entscheiden zu können. Beim Kommunistischen Anarchismus ist es das Streben nach bestmöglicher Bedürfnisbefriedigung aller auf Grundlage der dezentralen Planung mit regionalem und planetarem Input, die alle Betroffen berücksichtigt. Im mentalen Modell des Commonismus ist es nahegelegt, das eigene Common so zu optimieren, dass erstens das Tätigsein angenehm ist und zweitens befreundete und vernetzte Commons (in-group) möglichst gut versorgt werden. Beim Kommunistischen Anarchismus ist es nahegelegt, planetare wie lokale Ressourcenknappheiten im Blick zu behalten und innerhalb dieser Grenzen die bestmögliche Versorgung aller Betroffenen (egal ob in-group oder wenig sichtbare Personengruppe) zu gewährleisten.
Und nun – vollkommen objektiv 😉 – der Utopie-Check für den Kommunistischen Anarchismus:
✅ Freiheit: Jede Person kann frei entscheiden, wo und mit wem sie lebt, was ihre Bedürfnisse sind und ob und wie sie tätig sein möchte. Diese Freiheit wird nur dadurch eingeschränkt, dass alle wichtigen Bedürfnisse aller abgedeckt werden sollten und dass dazu notwendige Tätigkeiten irgendwie verteilt werden müssen. Das kann – je nach lokaler Entscheidung – durch Rotation, Automatisierung, Einschränkung von Bedürfnissen oder andere Varianten gelöst werden.
✅ Solidarität: Es werden alle Betroffenen mitgedacht und Ziel ist die bestmögliche Erfüllung der Bedürfnisse aller. Bei knappen Ressourcen sind das nicht nur die Menschen einer Region, sondern auch Lebewesen auf anderen Kontinenten und zukünftiger Generationen. Freiwillige Vereinbarungen aller Betroffenen, Transparenz und Konfliktklärungskultur sorgen für Sicherheit und Gerechtigkeit in der Verteilung.
✅ Sorge: Sorgetätigkeiten werden wie andere Tätigkeiten gehandhabt und die Erfüllung wichtiger Bedürfnisse im Sorgebereich wird durch die dynamische Koordination sichergestellt. Es kann – je nach Wünschen der Menschen – lokal sehr unterschiedliche Vereinbarungen zu Tätigkeiten im Sorgebereich geben.
✅ Krise: Lokale Auswirkungen von Krisen lassen sich durch die lokale Selbstorganisation schnell und bürokratiefrei auffangen. Bei überregionalen und planetaren Ursachen oder Auswirkungen können durch beschleunigte Entscheidungsprozesse schnelle Anpassungen an die Produktions- und Distributionsplanung vorgenommen werden.
✅ Kein Dogma: Strukturelle Dezentralität und Vielfalt verbunden mit planetarer Vernetzung und Transparenz sind gute Instrumente zur Vermeidung von Machtakkumulation und dogmatischen Setzungen.
Kennt ihr den Politischen Kompass? Das ist ein (zu) stark vereinfachendes und deshalb viel kritisiertes Modell, um politische Ideen oder Akteur*innen in einem zweidimensionalen Raum einzuordnen. Dabei zeigt die x-Achse das Spektrum zwischen (ökonomisch) links und (ökonomisch) rechts und die y-Achse das Spektrum zwischen libertär (unten angeordnet) und autoritär (oben angeordnet). Anarchistische Strömungen sind darin ziemlich weit links unten.
In dem unten verlinkten Workshop-PDF habe ich mal den Versuch unternommen – natürlich wieder vollkommen objektiv 😉 – anarchistische Strömungen zwischen anderen linken Strömungen in einem ähnlichen Diagramm anzuordnen, also in die linke untere Ecke des politischen Kompasses reinzuzoomen. Natürlich kann eine solche Anordnung nur falsch sein. Da ich Transparenz und Visualisierungen hilfreich finde, habe ich es trotz potenzieller Kritik daran gewagt.
Die Achsen sind dabei leicht verändert: die x-Achse zeigt das Spektrum zwischen Kooperation (links) und Konkurrenz (rechts), die y-Achse zeigt den Einfluss von Institutionen. Autoritärer Kommunismus mit zentraler Planwirtschaft wäre darin oben links zu verorten, da Institutionen viel Macht haben und Produktion und Distribution – angenommen Bürokratie und Vetternwirtschaft haben nicht zu hohen Einfluss – auf das Gemeinwohl ausgerichtet, also kooperativ geregelt sind. Libertarismus (fälschlicherweise manchmal auch als „Anarcho-Kapitalismus“ bezeichnet) wäre dagegen ganz unten rechts angeordnet, da freier Wettbewerb, also hohe Konkurrenz herrscht und diese durch keine Institutionen beschränkt wird.
Und wo sind nun die anarchistischen Modelle? Etwa in der Mitte dazwischen gibt es Modelle wie Parecon und Mutualismus, die teilweise dem Anarchismus zugeordnet werden. Noch mehr in Richtung Kooperation gehen die Modelle Anarcho-Kollektivismus und libertärer Kommunalismus. Ganz links auf der Seite der Kooperation und mit relativ geringem Institutionsanteil habe ich den oben bereits näher vorgestellten Anarcho-Kommunismus eingeordnet. Diesen würde ich als eine der einflussreichsten Strömungen im deutschsprachigen Raum bezeichnen.
Viele Anarchist*innen gehen davon aus, dass unterschiedliche anarchistische Modelle auch langfristig nebeneinander existieren können und dies sogar wünschenswert wäre. Das wird als Synthetischer Anarchismus oder auch „Anarchismus ohne Adjektive“ bezeichnet.
In der Praxis ausprobiert wird dieses Modell beispielsweise in der International Federation of Anarchists (IFA), in der die Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA) organisiert ist. Dabei gibt es einen groben anarchistischen Grundkonsens und weitgehende Autonomie der Mitglieder der Organisation. Die FdA kann also unabhängig von der IFA agieren und Mitglieder der FdA können unabhängig von der FdA handeln. So können unterschiedliche Ansätze einander inspirieren und Synergie-Effekte nutzen. Es gibt jedoch kein von oben festgelegtes Programm, an das Mitglieder gebunden sind.
Aus dem Bereich fiktionaler anarchistischer Gesellschaftsentwürfe ist Bolo'bolo ein Beispiel, in dem unterschiedliche Lebensweisen nebeneinander existieren können. Bolo'bolo regt zum Nachdenken über einen möglichen Minimalkonsens in vielfältigen anarchistischen Gesellschaften an: Ist es z.B. ok, dass es Nazi-Wohnblöcke gibt, solange die keine anderen Wohnblöcke stören? Was ist mit den Kindern, die in Nazi-Wohnböcken aufwachsen? Oder was würde beim Nebeneinander mit kapitalistischen Wohnblöcken passieren? Würden die wieder maßlos ausbeuten und sich ausbreiten? Auch mit Rollenspielen lassen sich solche Entwürfe ausprobieren.
Max Nettlau benutzt den Begriff der Panarchie, um das Nebeneinander unterschiedlicher Gesellschaftsmodelle zu beschreiben:
Es handelt sich nur um eine einfache Erklärung im politischen Bureau der Gemeinde, und ohne Schlafrock und Pantoffeln auszuziehen, mag man von der Republik zur Monarchie, vom Parlamentarismus zur Autokratie, von der Oligarchie zur Demokratie oder selbst zur An-archie des Herrn Proudhon nach eigenem Belieben übergehen.
Wir können uns vorstellen, dass unterschiedliche gesellschaftliche Modelle nicht nur räumlich voneinander getrennt nebeneinander existieren, sondern auch, dass im selben Dorf und im selben städtischen Häuserblock – also räumlich beieinander – Menschen zusammen leben, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Modellen angehören.
Die Idee der lokalen Ansatzvielfalt, vermeidet Probleme der Isolation und Indoktrinierung, erlaubt das Ausprobieren und Weiterentwickeln verschiedener Konzepte von Herrschaftsfreiheit und könnte beim Scheitern einer Idee trotzdem Versorgungskrisen ganzer Regionen vermeiden.
Trotzdem bleibt die offene Frage, ob z.B. kapitalistische Systeme mit anderen koexistieren könnten. Wie könnte ein Minimalkonsens oder Minimalanforderungen an nebeneinander existierende Gesellschaften aussehen, sodass vermieden wird, dass entweder der Planet oder bestimmte Gesellschaften von anderen Gesellschaften ausgenutzt oder vernichtet werden?
Als Diskussionsanregung ist hier ein Beispiel eines solchen Minimalkonsenses, im Folgenden Planetare Vereinbarung genannt, der die nachhaltig herrschaftsarme Koexistenz unterschiedlicher Modelle ermöglichen könnte:
Eine spannende Frage ist, wie eine solche Planetare Vereinbarung antimilitaristisch „durchgesetzt“ werden könnte. Eine möglichst objektive Darstellung der Nichteinhaltung des Minimalkonsenses, herrschaftsarme Konfliktklärungsverfahren, öffentliche Skandalisierung, Aufruf zum Verlassen der Gesellschaft, die die Vereinbarung bricht, und Isolation sind dazu wirkungsvolle Mittel.
In der Praxis bräuchte es zur Umsetzung dieser planetaren Vereinbarung
Wie kann vermieden werden, dass ein Gesellschaftssystem unverhältnismäßig viele Ressourcen anhäuft? Dazu könnte in die planetare Vereinbarung aufgenommen werden, dass alle 10 Jahre Ressourcen neu verteilt werden. Das muss kein frustiges Ereignis („wir haben so hart dafür geschuftet und nun wird alles weggegeben“) sein, sondern könnte eine festliche Ehrung derer sein, die in der vergangenen Dekade – ob durch Glück oder sonstige Gründe – viele Ressourcen angehäuft haben. Das Anhäufen von „Reichtümern“ bleibt jedoch eine Art Spiel, mit leichtem Wettbewerbscharakter zwischen den Gesellschaftsmodellen, das nach einem festgelegten Zeitraum endet. Dann wird neu nach Anzahl der zu einer Gesellschaft gehörenden Menschen verteilt.
Der Klimaumbruch ist definitiv eine riesige planetare Herausforderung. Ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll, über dezentrale Gesellschaftsmodelle nachzudenken? Braucht es nicht möglichst schnell Veränderungen auf planetarer Ebene und kann dies nicht am effizientesten durch ein zentrales System mit Durchsetzungsgewalt (Herrschaftssystem) umgesetzt werden?
Wie bereits oben erwähnt, kann Zeitdruck Menschen davon überzeugen, dass ein autoritäres System notwendig wäre. Autoritäre Systeme fügen den Gefahren des Klimaumbruchs weitere Gefahren hinzu, wodurch die Folgen des Klimaumbruchs schwerer zu ertragen werden: Ausgrenzung, Bevorzugung von Eliten bei der Verteilung knapper Ressourcen, Korruption und Falsch-Informationen.
Auch nicht-autoritäre, herrschaftsarme und dezentrale Systeme können Antworten auf drängende planetare Probleme bieten. Anarchie bedeutet – entgegen verharmlosender Darstellungen – kein isoliertes Selbstversorgungsleben, sondern herrschaftsarme Koordination auch auf regionaler und planetarer Ebene.
Doch wie kann das aussehen?
Eine Region kann ein Kohlekraftwerk nur betreiben oder nicht betreiben und die von Wissenschaftler*innen empfohlene Reduktion der Treibhausgase zur Vermeidung des Klimawandels kann nur ernst genommen werden. Wie können diese Art von Entscheidungen in einer polyzentralen und polyparadigmatischen Welt gefällt werden?
Zunächst will ich erwähnen, dass die schlimmsten planetaren Probleme wie Klimawandel und soziale Ungerechtigkeit erst durch Kolonialismus und Kapitalismus entstanden sind. Ein Systemwechsel ist also grundsätzlich eine gute Idee. Jedoch kein beliebiger.
Dezentrale Systeme können mit Komplexität besser umgehen, da die Entscheidungen lokal dort getroffen werden, wo die notwendigen Informationen vorhanden sind und wo die Menschen davon betroffen sind. Dezentrale Systeme können sich selbst organisieren, brauchen also keine Regierung. Dezentrale Systeme sind außerdem anpassungsfähiger und resilienter. Genau diese Eigenschaften sind in Krisen wichtig. Ein Beispiel: Nach Naturkatastrophen ist es häufig so, dass lokale Gruppen schneller und effizienter Hilfe organisieren können als große zentrale Organisationen.
Dezentral bedeutet nicht notwendigerweise Isolation. Ich bin keine Verfechterin des Anarcho-Primitivismus, der low-tech Selbstversorger*innen-Gemeinschaften anstrebt. Gerade angesichts planetarer Probleme sind Vernetzung und Kommunikation wichtig. Nur so kann eine Planetare Vereinbarung umgesetzt werden und nur so können Maßnahmen zur Minderung des Klimaumbruchs abgesprochen und umgesetzt werden. Planetare Gremien, die aus einer Auswahl von delegierten Expert*innen und Betroffenen aller Gebiete und Regionen, bestehen könnten, würden z.B. empfehlen, wie viele Treibhausgase in welchem Zeitraum maximal ausgestoßen werden dürfen. Das ist jedoch keine Handlungsanweisung einer Zentralregierung. In der Umsetzung, wie die Treibhausgase reduziert werden, hätte jede Region, und jede lokale Struktur jedes Gesellschaftsmodells weitestmögliche Gestaltungsfreiheit. Während die einen entscheiden vegan zu leben und den Verkehr zu reduzieren, erreichen andere mit kompakten städtischen Wohnformen, mehr Arbeitseinsatz und mehr Solartechnik die gleiche Einsparung. Ein Ziel – dezentrale Ideenvielfalt und viele Lebensentwürfe.
Oft steht Dezentralität im Verdacht, komplex, umständlich und langsam zu sein. Wenn das so wäre, wären dezentrale Systeme ungeeignet, die Klimawandelprobleme anzugehen, da hier schnelles Handeln erforderlich ist. Doch ist das wirklich so? Sind nicht eher Zentralregierungen mit all ihren Bürokratieapparaten und An-der-Macht-klammernden Funktionären und Entscheidungsträgern, die nichts entscheiden können, weil sie nur auf Wirtschaftsinteressen fokussiert sind, diejenigen, die zügige Veränderungen ausbremsen?
Es werden Beispiele von langwierigen Plena mit zu vielen Teilnehmer*innen angebracht, die selbst über scheinbar kleine Probleme lange diskutieren. Auch die traditionellen anarchistischen Föderationsstrukturen mit vielen verschachtelten Föderationsebenen und persönlichen Treffen von Delegierten mit imperativem Mandat, die – je nach Föderationsebene – nur alle sechs Monate oder gar nur alle vier Jahre stattfinden, sind Zerrbild der Handlungsunfähigkeit. Beides ist kein Beweis dafür, dass effiziente dezentrale Entscheidungsfindung nicht möglich ist.
Theoretisch analysiert, warum Gesellschaften zu komplex sind, um mit Zentralregierungen effizient gesteuert zu werden, und warum vernetzte dezentrale Systeme mit planetaren Informationskanälen zweckmäßiger und anpassungsfähiger agieren können, hat z.B. Stafford Beer in „organizational cybernetics“. Mehr dazu findest du in diesem englischsprachigen Text zur Kybernetik und CyberSyn. Dort wird auch das folgende Bild, das Merkmale effizienter dezentraler Organisation illustriert, näher erläutert.
Nachdem nun umrissen ist, wie eine Utopie entwickelt werden kann und wie eine konkrete dezentrale Utopie aussehen kann, nachdem also klar ist, wo wir hin wollen, können wir nun im nächsten Schritt überlegen, wie wir dort hinkommen können, wie also eine Transformation aussehen kann.
Zur Erinnerung: Die Suche nach Utopie und Transformation geht immer zyklisch weiter. Um sich Gedanken über Transformation machen zu können, ist es trotzdem hilfreich, grob zu wissen, wohin die Transformation transformieren soll.
Mit der Utopie herrschaftsarmer Gesellschaften vor Augen, bewerte ich im Folgenden Transformationsideen. Denn eine Transformationsidee, die „erfolgreich“ zu einer Diktatur führen kann, ist vermutlich nicht geeignet, uns näher zu herrschaftsfreien Gesellschaften zu bringen.
Zunächst einige Ideen zur Transformation, die ich als ungeeignet ausschließe, jedenfalls dann, wenn sie als das zentrale Mittel zur Transformation dargestellt werden:
Dies dagegen sind Merkmale von Transformationen, die mir wichtig sind, wenn die Utopie herrschaftsarme Gesellschaften lautet:
Auch wenn ich Reformen als zentrale Transformationsmethode ablehne, können Reformen ein Anfang neben anderen sein. Gute Reformen sollten zwei Zwecke erfüllen:
Einige Beispiele für solche Reformen:
Genauso wie die Utopie mehrerer unterschiedlicher, nebeneinander existierender Gesellschaftsentwürfe möglich und anstrebenswert ist, ist auch eine Vielfalt von Transformationsideen, die zeitgleich angewandt werden können, möglich und sinnvoll. Denn nicht jede Transformationsmethode passt für jede*n. Je nach Lebenssituation und persönlichen Vorlieben kann es Präferenzen geben und das ist auch ok so. Durch ein Mosaik von Transformationsmethoden kann trotzdem eine gemeinsame Bewegung Richtung Utopie entstehen, wenn – und das ist der wichtige Punkt – es eine breite Diskussion zu Utopien gibt und dabei grob klar wird, wer welche Utopien anstrebt.
Hier einige Ideen zur Vielfalt von Transformationsmethoden:
All diese Bemühungen können jedoch ins Leere laufen, wenn es kein gemeinsames Verständnis von anzustrebenden Utopien gibt. Wichtig ist, dass möglichst viele Menschen von der Idee der Utopie gehört haben und sie akzeptabel finden. Möglichst viele Menschen einzubinden, sollte jedoch nicht bedeuten, beliebig zu werden. Die Utopie sollte nicht so verwaschen werden, dass der Utopie-Check nicht mehr erfüllt ist.
Ähnlich wie zur Übersicht emanzipatorischer Strömungen habe ich versucht, Transformationsideen in einen zweidimensionalen Raum einzuordnen. Deshalb hier wieder der Disclaimer: Natürlich kann eine solche Anordnung nur falsch sein. Da ich Transparenz und Visualisierungen hilfreich finde, habe ich es trotz potenzieller Kritik daran gewagt.
Reformen habe ich oben rechts bei einem hohen Anteil von Institutionen und Konkurrenz eingeordnet, da sie die bestehenden Institutionen nutzen und diese im Kapitalismus von Konkurrenz geprägt sind. Um also beispielsweise eine Reform für kostenlosen Nahverkehr durchzubekommen, müssen Kritiker*innen überzeugt werden, die meinen, dass die Wirtschaft davon Schaden nehmen könnte. Den Insurrektionalismus habe ich unten rechts eingefügt, da er nicht auf Institutionen beruht oder diese gar zerschlagen will. Ich halte Insurrektionalismus für eine auf Konkurrenz basierende Methode, da es beim Einsatz von Gewalt oft darum geht, wer schneller, stärker oder geschickter ist.
Unten links ist die Idee der Keimform eingeordnet, da hier unabhängig von bestehenden Institutionen und weitgehend unvernetzt neue Infrastruktur aufgebaut wird, die nicht auf dem kapitalistischen Konkurrenzprinzip beruht. Jedenfalls trifft dies auf das Commons-Paradebeispiel Wikipedia zu. Arbeitskollektive, die Güter oder Dienstleistungen produzieren, müssen sich jedoch gegen andere kapitalistische Betriebe auf dem Markt durchsetzen und schaffen das teilweise nur durch Selbstausbeutung. Sofern die Kollektive untereinander oder mit anderen emanzipatorischen Initiativen vernetzt sind, rutschen sie weiter nach oben auf der Institutionsachse.
Die Synthetische Föderation und den Anarcho-Syndikalismus halte ich für relativ konkurrenzarme Transformations- und Organisationsmethoden, die auf der Institutionsachse etwa mittig angeordnet sind, da föderative Vernetzung ein wichtiges Merkmal dieser Organisationen sind.
Oben links ist der Plattformismus zu finden. Im Gegensatz zur Synthetischen Föderation besteht der Plattformismus auf einem gemeinsamen Programm und einer gemeinsamen Strategie. Alle Mitglieder müssen diese unterstützen. Aus diesem Grund sehe ich einen hohen Institutionsfaktor. Der Plattformismus erfährt zurzeit in Deutschland in der Plattform eine Renaissance. Auch die Seiten anarchismus.de und anarchafeminismus.de wurden von der Plattform übernommen und gestaltet.
Da mir größtmögliche Ideen- und Ansatzvielfalt wichtig ist, ist mir persönlich der Ansatz der synthetischen Föderation näher als der des Plattformismus. Wie jedoch bereits oben erwähnt, können unterschiedliche Transformationsansätze gut nebeneinander existieren und gemeinsam ein Mosaik der Transformation bilden, das den Wandel in emanzipatorische Gesellschaftsformen ermöglicht.
Es erschien mir lange als elitär, über anarchistische „Strategie“ nachzudenken. Zudem hat der Begriff für mich einen militaristischen Beiklang. Jedoch kann „Strategie“ auch als kooperativ ausdiskutierte Aktionsrichtung verstanden werden. Als solche bietet sie eine Orientierung zur Planung von konkreter politischer Aktivität. Es geht dabei weder darum, einen starren Plan zu entwerfen, der nicht auf aktuelle Ereignisse reagieren kann, noch darum, politisches Handeln dem kapitalistischen Leistungsdruck zu unterwerfen. Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem politisches Handeln in Hinblick auf Utopie und Transformationsideen reflektiert werden kann.
Das folgende Schaubild zeigt, wie sich aus struktureller Kritik, kategorialer Utopie und Transformationsideen eine Strategie ergeben kann. Strategie kann in langfristige und kurzfristige Ziele unterteilt werden. Die langfristigen Ziele ergeben sich direkt aus den Transformationsideen. Kurzfristige Ziele sind Zwischenschritte zur Erreichung der langfristigen Ziele. Konkrete Aktionen oder Aktivitäten können erdacht werden, um die kurzfristigen Ziele umzusetzen.
Aktivitäten können so mit Bezug auf kurz- und langfristige Ziele reflektiert werden: Wen wollen wir mit welchen Aktivitäten ansprechen? Was hätten wir zur Erreichung der kurzfristigen Ziele besser machen können? Was sind die Hindernisse, die wir zur Erreichung der langfristigen Ziele überwinden müssen? Durch diese Reflexion entsteht eine Feedback-Schleife, die wieder neue Denkansätze nicht nur für die Strategie, sondern auch für Utopie und Transformationsideen liefert, sodass diese sich fortwährend weiter entwickeln können.
Wichtig ist eine breite Diskussion über Utopien und Transformationsideen. Hier sind abschließend noch ein paar Ideen, wie dies konkret möglich ist.
Hilfreich sind frei zugängliche Diskussion in unterschiedlichen Formen – vom sachlichem Text bis Kunst. Hilfreich ist auch, sich gegenseitig zu zitieren (sowohl Utopien, die wir gut finden, als auch solche, die wir solidarisch kritisieren), damit einzelne Ideen nicht losgelöst im Raum stehen und sich durch die Kritik weiterentwickeln können.
Warum können nicht alle, die sich mit emanzipatorischen Utopien befassen, eine Checkliste auf ihrer Website haben, mit der auf einen Blick ersichtlich ist, wofür die vorgestellte Idee steht? (Sicher, diese Angaben wären subjektiv verzerrt, und verkürzt, jedoch wäre es ein Anhaltspunkt für die weitere Recherche.) Ein Beispiel wäre der hier vorgeschlagene Utopie-Check, es könnte jedoch auch eine andere, ausführlichere Liste sein. So könnten wir effizient Utopien vergleichen und diskutieren, ohne uns in Lesegruppen durch wenig konkret werdende, schwer verständliche, lange Texte zu interpretieren.
Ob mit Checkliste oder in Diskussionsbeträgen, ich finde es wichtig, sich kurzzufassen und konkret zu werden. We need to get to the point. Eine Genossin meinte ein mal, das Schreiben dicker Bücher sei eine Unsitte des Patriarchats, die davon ausgeht, dass mensch keine Verantwortung für Sorgetätigkeiten und daher viel Zeit hätte. 😉
Um bei sich wiederkehrenden kontroversen Fragen rund um Utopie und Transformation, wie z.B. der Gewaltfrage, oder Fragen der planetaren Koordination nicht immer wieder bei null anzufangen und auch Leute einzubinden, die nicht an einer Diskussionsveranstaltung teilnehmen konnten, bieten sich Diskussionswerkzeuge wie Kialo an. Hier ein paar Beispieldiskussionen in Kialo:
Ein weiterer Zugang zu Utopien sind Planspiele: Je nachdem wer mitspielt, können unterschiedlich herausfordernde Szenarien als Startpunkt gewählt werden: z.B. eine Welt, in der genügend Ressourcen zur Verfügung stehen oder eine Welt in der nach einer Klimakatastrophe nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung stehen und es erst mal um das blanke Überleben geht. Dann können die Ideen der Utopie ausprobiert werden, in dem verschiedene Rollen mit unterschiedlichen Aufgaben oder unterschiedlichen Ansichten verteilt werden. Z.B. kann eine Gruppe dafür verantwortlich sein, für alle Nahrung zu beschaffen und zu kochen und eine zweite könnte für Landwirtschaft und eine dritte für Entsorgung verantwortlich sein. Wie werden die Aufgaben verteilt und wie wird sichergestellt, dass auch im nächsten Jahr noch genügend Lebensmittel zur Verfügung stehen? Eine andere Aufgabenverteilung könnten Delegierte des planetaren Klimagremiums einerseits, Kohlebergbaubetreiber andererseits und lokale Bewohner der Bergbauregion sein, die zusammen kommen, um die Zukunft des Kohlebergbaus zu diskutieren. Euch fallen bestimmt noch viele andere spannende Rollenverteilungen ein. Die Spielleitung kann etwa alle 30 Minuten unterbrechen und mit neuen Inputs für Variation und Perspektivwechsel sorgen: z.B. ein Jahr später, nach einer weiteren Klimakatastrophe, ein Nazi-Überfall, neue Rollenverteilungen, … Wichtig ist, dass Zeit für eine emotionale Nachbereitung des Rollenspiels fest eingeplant wird, sodass im Nachgang besprochen werden kann, wie es den Beteiligten geht und ob das im Spiel gezeigte Verhalten Irritationen hervorgerufen hat, weil es vielleicht gar nicht so herrschaftsarm wie war, wie sich die alle gewünscht hätten.
Eine weniger emotional involvierte Möglichkeit über Utopien zu sprechen, ist, sich in Kleingruppendiskussion einzelnen Themenbereichen von Gesellschaftsentwürfen anzunähern. Zwölf Themenvorschläge mit Diskussionsanregungen findet ihr auf den letzten Seiten dieses PDFs.
Eine weitere Möglichkeit des „wie weiter?“, ist sich Organisationen anzuschließen, die Keimformen und präfigurative Strukturen aufbauen, also Strukturen, die schon utopischen Charakter haben. Ein Beispiel dafür sind Gruppen, die in den oben erwähnten FdA-IFA organisiert sind, Kollektive, die versuchen im Kapitalismus zu existieren, Hausprojekte, und viele andere politische Gruppen.
Aus Perspektive der Utopie und Transformation ist für all diese Gruppierungen wichtig, dass sie an die Anwesenheit des Ziels in den Mitteln denken und Offenheit und Transparenz pflegen. Es ist auch gut im Blick zu behalten, wo die Organisationen sich auf der Achse zwischen Strukturlosigkeit (keine Institutionen) und starken Institutionen befinden. Bei zu starken Institutionen besteht die Gefahr bürokratischer, elitärer oder autoritärer Tendenzen und eingeschränkter Vielfalt. Bei Strukturlosigkeit besteht die Gefahr der Ziellosigkeit und der intransparenten, verdeckten Dominanz durch Eliten. Letzteres wird in dem Text Tyranny of Structurelessness (engl.) aus den 70ern von Jo Freeman gut erklärt. Transparente Strukturen, die gut vernetzt sind und Freiraum für Vielfalt lassen, sind ein meiner Meinung nach ein zweckmäßiger und anstrebenswerter Weg.
Zusammenfassend hier noch einmal eine Erinnerung an die zyklisch sich wiederholenden Schritte zur Entwicklung von Utopien
und an den Utopie-Check
Vielleicht können diese beiden Methoden euch helfen, über Utopien nachzudenken und diese zu diskutieren.
Mit mehr konkreter werdender Kommunikation über Utopien können wir Vertrauen schaffen und dem Systemwandel näher kommen.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag mit dem Titel „Dezentrale Utopien gegen planetare Krisen“, den ich im Oktober 2021 im Rahmen der Konferenz der Visionen gehalten habe.