Entscheidungen und Vereinbarungen

Über die Notwendigkeit von Vereinbarungen

Um anarchistische Projekte zu starten und langfristig erhalten zu können, sind Vereinbarungen notwendig. Einige Leute meinen, dass sich alles im Flow ergibt, dass Vereinbarungen kaum möglich seien, da die Bedingungen und Bedürfnisse sich sowieso ständig ändern würden. Anarchy and Responsibility beschreibt näher, warum die Abwesenheit von Vereinbarungen zu informellen Hierarchien und zur Dominanz der Stärkeren führt und daher anarchistische Strukturen untergräbt. Vereinbarungen und die gemeinsame Übernahme von Verantwortung sind eine wichtige Basis für gegenseitiges Vertrauen sowie hierarchiearme und solidarische Strukturen.

Konsens

Viele anarchistische Projekte fällen Entscheidungen und treffen Vereinbarungen im Konsensverfahren. Ein Konsens ist eine einvernehmliche, von allen gemeinsam erarbeitete, verantwortete, später getragene und praktizierte Vereinbarung. Konsens bedeutet nicht unbedingt, dass alle einer Meinung sind - aber immer, dass alle mit der Entscheidung leben können und niemensch mit seinen_ihren Bedürfnissen übergangen wird.

Davon gibt es einige unterschiedliche Abwandlungen. Einige Gruppen entscheiden im Konsens, ob sie eine bestimmte Entscheidung im Konsens oder per Abstimmung fällen wollen. Andere Gruppen haben festgelegt, welche Art von Entscheidungen im Konsens gefällt werden und wiederum andere versuchen alles im Konsens zu entscheiden, wobei eine Art Selbstverständnis oder Grundkonsens den Handlungsspielraum beschreibt, der keine Entscheidung benötigt.

Auch für den Prozess der Entscheidungsfindung und der Findung eines Konsens gibt es unterschiedliche Verfahren. Meist gibt es mehrere Phasen zur Information, zur Diskussion, zum Eingehen auf Bedenken und zur Entscheidung selbst. Die Entscheidung selbst wird meist nach Stufen abgefragt: Volle Zustimmung, Bedenken, Enthaltung, beiseite Stehen (ich bin dagegen, blockiere aber nicht) und Veto.

Dies ist ein Handout von 2013, das sowohl Handzeichen zur Erleichterung des Prozesses als auch den Konsensprozess selbst beschreibt.

Veto und Gefahren des Missbrauchs

Das Veto des Konsensverfahrens ist als Hilfeschrei gedacht. Es ist eine Notoption für den Fall, wenn eine Mehrheit eine Entscheidung zu treffen droht, die es einer Minderheit oder Einzelperson nicht mehr erlauben würde, Teil des Projekts zu sein, oder das Projekt gefährden würde. In Gruppen mit funktionierenden Konfliktklärungs- und Entscheidungsprozessen wird es sehr selten gebraucht, da niemand übergangen wird, Bedenken schon vorher gehört werden und eine gemeinsame Lösung gesucht wird.

Wenn diese Vorraussetzungen nicht erfüllt sind oder aber wenn sich einzelne Provokateure in das Projekt gemischt haben, können diese durch inflationären Gebrauch des Vetorechts sowohl die Handlungsfähigkeit einer Gruppe blockieren oder als Einzelperson Handlungen oder das Ausbleiben von Handlungen erzwingen.

Um diesen Missbrauch zu vermeiden ist es für Projekte wichtig, eine Vereinbarung zu einem Entscheidungsprozess zu haben, die auch klärt, was Veto für die Gruppe bedeutet, in welchen Fällen Veto angebracht ist, in welcher Form Vetos geäußert werden und was nach einem geäußerten Veto passiert.

Beispiel einer möglichen Vereinbarung zum Entscheidungsprozess

Dieser Text basiert auf einem Vorschlag für einen Entscheidungsprozess für ein Hausprojekt von 2015, welcher wiederum auf Ideen von unter anderem diesem Konsensmodel von N Street Cohousing aufbaut.

Interessant sind auch die in diesem Text genannten Voraussetzungen für einen funktionierenden Konsensprozess:

0. Präambel

Wir wollen keine Gemeinschaft von isolierten Menschen, die alleinverantwortlich sind für alles, was ihnen in diesem Projekt so passiert. Gegenseitige Unterstützung und aufeinander aufpassen ist wichtig. Jedoch braucht es ein Mindestmaß an Eigenverantwortung, um als Teil einer Gemeinschaft Entscheidungen treffen zu können:

Für welche Entscheidungen gilt das Verfahren?

Komplexität des Prozesses

Je nach Umfang/Konfliktpotential der Entscheidung verändert sich der Umfang der Vorbereitung, der Zeit zur Diskussion auf dem Plenum. Wichtig ist nur, dass die Entscheidungsfrage klar gestellt und das Ergebnis klar festgehalten wird.

Diese Grafik veranschaulicht den Prozess.

1. Vorbereitung der Entscheidung

Um eine Entscheidung gut vorzubereiten, das Plenum zu entlasten, nicht Anwesende im Vorfeld zu informieren, niemanden auf dem Plenum zu überrumpeln und um Transparenz zu gewährleisten, werden für anstehende Entscheidungen notwendige Informationen gesammelt und eine klare Entscheidungsfrage eine Woche vor dem Plenum schriftlich/per Email angekündigt.

Auf dem Plenum bedarf es einer entsprechenden Vorbereitung für die Entscheidung, also Stimmungsbild, Klärung von Bedenken, dem Schließen von Informationslücken und dem weiteren Austausch in der Gruppe. Die Entscheidung sollte von allen verstanden und akzeptiert werden. Die Entscheidungsfrage wird im Protokoll festgehalten.

2. Die Entscheidung

Zur Entscheidungsfrage wird die Konsensstufe (5stufiges Konsensmodell) aller Anwesenden abgefragt. Die Anwesenden können mit Handzeichen ihre Stufe zeigen. Das Ergebnis der Abfrage, inklusive mit Namen versehenen Bedenken, wird im Protokoll und in einem durchsuchbaren Medium zur geordneten Sammlung aller Vereinbarungen festgehalten.

Stufe 1 – Zustimmung: Ich stimme dem Vorschlag zu und trage die Entscheidung mit.

Stufe 2 – Zustimmung mit Bedenken: Ich habe Bedenken, trage aber die Entscheidung trotzdem mit.

Stufe 3 – Enthaltung: Ich enthalte mich mit meiner Stimme und überlasse die Entscheidung anderen.

Stufe 4 – Ablehnung/Beiseitestehen: Ich bin gegen den Vorschlag und werde mich an seiner Umsetzung auch nicht aktiv beteiligen. Ich will die Gruppe nicht blockieren und lege deswegen kein Veto ein.

Stufe 5 – Veto: Ich bin so sehr gegen diesen Vorschlag, dass die Gruppe ihn nicht umsetzen darf.

Entscheidungen sind angenommen, wenn es kein Veto(5) gibt. Wenn nur ein Grummelkonsens (hoher Anteil von Stufe 3 und 4) zustande kommt, wird die Entscheidung bei Bedarf beim darauffolgenden Plenum oder in Einzelgruppen weiterdiskutiert.

Die Bedeutung eines Vetos

Ein Veto ist ein Hilfeschrei, der angewendet werden kann, wenn eine Person mit einer Entscheidung nicht leben könnte, also das Projekt verlassen müsste, oder wenn sie das Projekt selbst oder dessen Selbstverständnis durch diese Entscheidung in Gefahr sieht.

3. Nicht beim Plenum gewesen?

Du kannst deinen Namen mit Konsensstufe innerhalb von drei Tagen im Protokoll nachtragen, oder diese einer anderen Person ‚mitgeben‘. Sollten Menschen verreist sein oder es ihnen aus anderen wichtigen Gründen nicht möglich sein, innerhalb von drei Tagen das Protokoll zu lesen, müssen sie durch Menschen aus der Gruppe informiert werden.

4. Wie weiter im Vetofall?

Das folgende Verfahren kann von den Beteiligten genutzt werden, wenn sie sich damit sicherer fühlen. Wenn sie anders im Gespräch bleiben oder schon vor dem ersten Treffen eine Lösung haben – super.

Es gibt ein „automatisiertes“ Treffen am Donnerstag 20:30 Uhr nach dem Veto. Daran muss mindestens die Veto-Person (oder deren Vertrauensperson) und eine Person, die das Thema eingebracht hat, teilnehmen. Kann eine der beteiligten/betroffenen Personen an diesem Tag nicht, trägt sie die Verantwortung, sich um einen Alternativtermin zu kümmern.

Nach diesem Termin folgen alle 2 Wochen (insgesamt bis zu 6 mal) weitere Treffen. Entsteht aus diesen Treffen oder anderen Unterhaltungen zwischendurch ein neuer Vorschlag, den beide Seiten ok finden, kommt dieser Vorschlag zum nächsten Plenum. Wenn die Veto-Person (oder deren Vertrauensperson) nicht an den Treffen teilnimmt, gehen wir davon aus, dass das Interesse an dem Veto nicht stark genug war und die Entscheidung tritt in Kraft. Kommt umgekehrt die Person, die das Thema eingebracht hat, nicht zu den Treffen, wird die Entscheidung nicht umgesetzt.

Gibt es nach den 6 Treffen immer noch keine Lösung, bleibt immer noch Mediation mit Beteiligung aller Betroffenen. Wir versuchen zunächst interne Mediation, bevor wir zu externer greifen. Bleiben auch danach grundsätzliche und gravierende Meinungsverschiedenheiten, könnte es sinnvoll sein, über Formen der Trennung nachzudenken.


In diesem Vorschlag für einen Entscheidungsprozess ist von "Vertrauenspersonen" die Rede. Was das bedeuten kann, kannst du im Text über Buddy-Systeme nachlesen.

Über Formen der Trennung findest du im Text Anarchy and Responsibility zusätzliche Gedanken.

2013