Es ist aus mehreren Gründen nicht nur falsch, sondern auch noch toxisch und verletzend, "Du kannst andere nur lieben, wenn du dich selbst liebst" zu sagen: Der Spruch propagiert die neoliberale Version von Eigenverantwortung, Konsumismus, das Patriarchat und Ableismus. In einer dieser Ende-des-Jahres-Rückblicke, hörte ich eine Person sagen, dass sie 2023 gelernt habe, zuerst sich selbst zu lieben, bevor sie jemanden anderen lieben könne. Ich habe beschossen endlich aufzuschreiben, warum ich das problematisch finde.
Der Kapitalismus und das Patriarchat üben (teilweise subtilen) Druck auf uns aus, bestimmte Schönheitsideale und Gender Normen zu erfüllen. Wir sollen Produkte und Dienstleistungen kaufen, um unseren physischen und psychischen Zustand zu verbessern, besser in die Normen zu passen und der Liebe würdig zu sein. Das kann dem Selbstvertrauen und der Selbstliebe schaden, wenn die Normen nicht erfüllt werden (können). Einer Person zu sagen, dass sie wegen der nicht ausreichenden Selbstliebe, andere nicht lieben könne, fördert den Konsum und ist super gemein. Lasst uns lieber diese toxischen Schönheitsideale und Gender Normen (und Kapitalismus) loswerden.
Zudem ist die Idee, dass jede Person alleine für ihre eigene mentale Gesundheit verantwortlich sei, neoliberale Propaganda im Dienste des Konsumismus, die uns sagen soll, härter an uns selbst zu arbeiten und Selbst-Hilfe-Produkte zu kaufen, um uns selbst in einen funktionstüchtigen Zustand zu versetzen und den Traum zu leben. Die meisten Menschen geht es in Umgebungen der Kooperation und gegenseitigen Unterstützung besser. Wir sollten uns nicht von anderen abhängig machen, um das eigene Wohlbefinden zu verbessern - sich dabei solidarisch zu unterstützen ist jedoch eine gute Idee.
Zunehmende existenzielle Unsicherheiten, die unter anderem durch die Klimakrise, soziale Ungerechtigkeiten und den Aufstieg des Faschismus verursacht werden, können negative Auswirkungen auf die mentale Gesundheit von vielen von uns haben. Das kann zu Depressionen, Verzweifeln an der eigenen Situation, und damit oft verbunden weniger Selbstliebe führen. Bedeutet das, dass wir keinen anderen mehr lieben können? Nein. Es ergibt auch keinen Sinn, die Welt um uns zu ignorieren, um unbeschwert zu erscheinen. Lasst uns lieber diese Probleme der Welt, der Gesellschaften und unsere eigenen gemeinsam und solidarisch miteinander angehen.
Einige psychischen Störungen können es Menschen sehr schwer machen, sich vollständig selbst zu lieben. Diesen Menschen zu sagen, sie können niemanden anderen lieben ist ableistisch und kann ihr Selbstwertgefühl weiter herunterziehen. Es gibt mehr als eine Art andere zu lieben und jede Person sollte ihre Liebe auf ihre Weise ausdrücken können, ohne dass Leute ihr sagen, das sei nicht die richtige Art und Weise. Auch Leute auf dem autistischen oder asexuellen Spektrum drücken Liebe oft auf nicht der Norm entsprechenden Weisen aus. Und das ist ok. Was uns die Medien über glückliche romantische Beziehungen vermitteln ist sowieso toxisch. Jede Person hat ihre eigene Art, Liebe auszudrücken und ihre eigenen Bedürfnisse nach dem, was sie als Liebe bekommen möchte.
Egal ob eine Beziehung aus neurodivergenten oder nur neurotpypischen Menschen besteht, egal ob eine*r von ihnen unter psychischen Problemen leidet, die z.B. Wurzeln in der Kindheit oder in vergangenen Beziehungen haben, es ist immer gut sich über grundlegende psychische Effekte bewusst zu sein, über die Bedürfnisse und Wünsche der anderen, und - wenn möglich - darüber zu reden. Dies sind Dinge, die in Schulen gelehrt werden sollten.
Ja, Menschen, die zurzeit mit psychischen Problemen zu tun haben, haben möglicherweise nicht so viel Kapazitäten, anderen Aufmerksamkeit und Liebe zu schenken. Sie können trotzdem auf ihre Weise und abhängig von ihren aktuellen Möglichkeiten, andere lieben. Sie verdienen es trotzdem geliebt zu werden. Sie sollten von Beziehungspartner*innen nicht erwarten, "geheilt" zu werden, aber sie müssen sich auch nicht selbst "heilen" bevor sie sich in eine Beziehung begeben können. Es ist ok, wenn Partner*innen einander in konsensueller Weise unterstützen und dabei die Bedürfnisse von beiden im Blick behalten, solange das keine nicht-konsensuellen Abhängigkeiten voneinander erzeugt. Es ist ok, Selbstliebe und mentale Gesundheit zu verbessern, während mensch in einer Beziehung ist.
Ein anderer (englischsprachiger) Text über toxische Vorstellungen von Liebe im Kapitalismus ist hier.